Mantel, Hilary
sehen, aber jetzt weiß sie, dass sie lediglich das Aufblitzen von Licht
an der Wand waren. Die Stimmen, die sie gehört hat, waren nicht die Stimmen der
Engel, es waren überhaupt keine deutlichen Stimmen, nur der Klang ihrer
Schwestern, die in der Kapelle sangen, oder eine Frau, die auf der Straße
weinte, weil sie geschlagen und beraubt wurde, oder vielleicht das sinnlose
Klappern von Geschirr in der Küche; und jenes Stöhnen und Schreien, das aus den
Hälsen der Verdammten zu kommen schien, das war nur jemand über ihr, der einen
Tisch über den Boden schleifte, es war das Winseln eines verirrten Hundes. »Ich
weiß jetzt, Sirs, dass diese Heiligen nicht wirklich waren. Nicht so, wie Sie
wirklich sind.«
Etwas in ihr ist zerbrochen,
und er fragt sich, was es ist.
Sie sagt: »Ist es vielleicht
möglich, dass ich wieder nach Kent zurückkehren kann, nach Hause?«
»Ich werde sehen, was sich
arrangieren lässt.«
Hugh Latimer sitzt bei ihnen
und wirft ihm einen strengen Blick zu, als würde er falsche Versprechungen
machen. Nein, wirklich, sagt er. Überlassen Sie es mir.
Cranmer teilt ihr sanft mit:
»Bevor Sie irgendwohin gehen können, ist es notwendig, dass Sie Ihren Schwindel
öffentlich zugeben. Ein öffentliches Geständnis.«
»Menschenmengen machen ihr
keine Angst, richtig?« All diese Jahre war sie mit ihrer Vorstellung auf
Tournee, und das wird sie wieder sein, auch wenn sich der Charakter der
Vorstellung gewandelt hat; er hat die Absicht, sie und ihre Reue in Paul's
Cross zur Schau zu stellen und vielleicht auch außerhalb Londons. Er hat das
Gefühl, dass sie die Rolle der Betrügerin ebenso freudig übernehmen wird, wie
sie ihre Rolle als Heilige übernommen hat.
Er sagt zu Riehe: Niccoló
schreibt, dass unbewaffnete Propheten immer scheitern. Er lächelt und sagt:
Ich erwähne das, Ricardo, weil ich weiß, das Sie alles gerne so haben, wie es
im Buche steht.
Cranmer beugt sich vor und
sagt zu der Magd: Diese Männer um Sie, Edward Bocking und die anderen, welche
von Ihnen waren Ihre Liebhaber?
Sie ist schockiert: Vielleicht
weil die Frage von ihm gekommen ist, dem sanftesten der Männer, die sie verhört
haben. Sie starrt ihn einfach nur an, als wäre einer von ihnen beiden dumm.
Er murmelt: Vielleicht denkt
sie, Liebhaber ist nicht das richtige Wort.
Genug. Zu Audley, zu Latimer,
zu Riehe sagt er: »Ich werde jetzt ihre Anhänger und ihre Führer vor Gericht
bringen. Sie wird viele zu Fall bringen, wenn wir ihren Fall herbeiführen
wollen. Fisher mit Sicherheit, Margaret Pole vielleicht, Gertrude und ihren
Mann bestimmt. Lady Mary, die Tochter des Königs, möglicherweise. Thomas More
nein, Katherine nein, aber eine reiche Ausbeute an Franziskanern.«
Das Gericht erhebt sich, wenn
man es denn Gericht nennen kann. Jo steht auf. Sie hat eine Handarbeit gemacht
- oder vielmehr ungeschehen gemacht, sie hat die Granatapfelbordüre an einem
Streifen Crewelstickerei aufgetrennt -, diese Erinnerungen an Katherine, an das
staubige Königreich Granada verweilen noch in England. Sie faltet ihre Arbeit
zusammen, steckt die Schere in die Tasche, schiebt den Ärmel hoch und steckt
ihre Nadel zum späteren Gebrauch in den Stoff. Sie geht auf die Gefangene zu
und legt eine Hand auf ihren Arm. »Wir müssen Adieu sagen.«
»William Hawkhurst«, sagt das
Mädchen, »jetzt erinnere ich mich an den Namen. Der Mönch, der den Brief von
Maria Magdalena vergoldet hat.«
Richard Riehe macht eine
Notiz.
»Sagen Sie heute nichts mehr«,
rät Jo ihr.
»Kommen Sie mit mir, Mistress?
Wo gehe ich hin?«
»Niemand wird mit Ihnen
kommen«, sagt Jo. »Ich glaube, Sie haben nicht richtig verstanden, Dame Eliza.
Sie gehen in den Tower, und ich gehe nach Hause zum Abendessen.«
Dieser Sommer von 1533 war ein Sommer der wolkenlosen
Tage, des Erdbeerhochgenusses in Londoner Gärten, des Summens suchender Bienen,
der warmen Abende, an denen man unter Rosenlauben spazierte und von den Alleen
den Lärm junger Herren hörte, die sich beim Bowls stritten. Die Kornernte ist
sogar im Norden reich. Die Bäume biegen sich unter dem Gewicht reifender
Früchte. Als hätte er dekretiert, dass die Hitze anhalten muss, leuchtet der
Hof des Königs hell durch den Herbst. Monseigneur, der Vater der Königin,
scheint wie die Sonne, und um ihn herum dreht sich ein kleinerer, aber immer
noch strahlender Mittagsplanet, sein Sohn George Rochford. Aber es ist
Brandon, der den Tanz anführt, er galoppiert mit seiner neuen Braut im
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