Mantel, Hilary
Knien gelegen und ihn
mit Tränen in den Augen angefleht, die Täter zu verschonen, während die
Schlingen, an denen sie hängen sollten, schon um ihren Hals lagen.«
»Die Massen«, sagt Cavendish,
»haben immer den Wunsch nach Veränderung. Sie ertragen keinen großen Mann in
Amt und Würden, sondern müssen ihn stürzen - weil sie immer etwas Neues
wollen.«
»Fünfzehn Jahre Kanzler.
Zwanzig in seinem Dienst. Davor in dem seines Vaters. Habe mich nie geschont...
bin immer früh aufgestanden, habe lange gewacht...«
»Da sehen Sie«, sagt
Cavendish, »was es heißt, einem Fürsten zu dienen! Wir sollten uns vor ihren
Stimmungsschwankungen hüten.«
»Fürsten sind nicht zur
Beständigkeit verpflichtet«, sagt er. Er denkt: Ich könnte mich vergessen,
rüberlangen und dich von Bord stoßen.
Der Kardinal hat sich nicht
vergessen, ganz im Gegenteil; er blickt zurück, zwanzig Jahre zurück zur
Thronbesteigung des jungen Königs. »Er soll sich an die Arbeit machen, haben
manche gesagt. Aber ich sagte: Nein, er ist ein junger Mann. Er soll jagen,
Turniere austragen, seine Habichte und Falken fliegen lassen ...«
»Instrumente spielen«, sagt
Cavendish. »Immer an irgendetwas herumzupfen. Und singen.«
»Bei Ihnen klingt er wie Nero.«
»Nero?« Cavendish fährt auf. »Das habe ich nie gesagt.«
»Der sanfteste, klügste Fürst der Christenheit«, sagt
der Kardinal. »Ich will kein Wort gegen ihn hören, von niemandem.«
»Das werden Sie auch nicht«, sagt er.
»Was habe ich nicht alles für
ihn getan! Den Kanal habe ich so leichthin überquert, wie andere über ein
Rinnsal Pisse auf der Straße treten.« Der Kardinal schüttelt den Kopf. »Wachend
und schlafend, zu Pferd oder beim Rosenkranzbeten ... zwanzig Jahre ...«
»Liegt es an den Engländern?«,
fragt Cavendish ernsthaft. Er denkt immer noch an den Aufruhr, als sie
ablegten; selbst jetzt laufen noch Leute am Ufer entlang, machen anstößige
Gesten und pfeifen. »Erklären Sie es uns, Master Cromwell, Sie waren im
Ausland. Sind die Engländer eine besonders undankbare Nation? Es will mir
scheinen, dass sie die Veränderung um ihrer selbst willen lieben.«
»Ich glaube nicht, dass es die
Engländer sind. Ich denke, so sind die Menschen eben. Sie hoffen immer, dass
vielleicht etwas Besseres kommt.«
»Aber was haben sie von der
Veränderung zu erwarten?«, beharrt Cavendish. »Ein mit Fleisch übersättigter
Hund wird von einem Hund abgelöst, der hungriger ist und bis auf den Knochen
zubeißt. Abgang des Mannes, der vor lauter Ehren fett geworden ist, und ein
hungriger, schlanker Mann tritt auf.«
Er schließt die Augen. Der
Fluss fließt unruhig unter ihnen - undeutlichen Gestalten in einer Allegorie
des Schicksals. Die Untergegangene Herrschergröße sitzt im Zentrum. Cavendish
zu seiner Rechten als Tugendhafter Ratgeber gibt murmelnd überflüssige und
säumige Ratschläge, zu denen der traurige Würdenträger den Kopf senkt; er
selbst sitzt wie ein Verführer zur Linken, und die große Hand des Kardinals mit
ihren Granat- und Turmalinringen hält seine eigene schmerzhaft fest. George
würde mit Sicherheit im Fluss landen, nur dass seine Worte trotz der
Plattitüden einen düsteren Sinn haben. Und warum? Stephen Gardiner, denkt er.
Es mag nicht angehen, den Kardinal einen fett gewordenen Hund zu nennen, aber
Stephen ist eindeutig hungrig und schlank und wurde vom König zu seinem persönlichen
Sekretär befördert. Es ist nicht ungewöhnlich, dass das Personal des Kardinals
auf diese Weise aufsteigt, nach erfolgreichem Durchlaufen der Wolsey-Akademie
für Intrigen und schlaues Taktieren; aber trotzdem setzt das Stephen an eine
Stelle, wo er - wenn er seinen Pflichten ordentlich nachkommt - dem König näher
ist als irgendjemand sonst, abgesehen vielleicht von dem Kammerherrn, der ihm
bei seinem Nachtstuhl zu Diensten ist und ihm ein Mulltuch reicht. Ich hätte
nichts dagegen einzuwenden, denkt er, wenn Stephen diesen Posten bekäme.
Der Kardinal schließt die
Augen. Tränen treten unter seinen Lidern hervor. »Denn es ist eine Wahrheit«,
sagt Cavendish, »dass das Schicksal unbeständig, wankelmütig und veränderbar
ist...«
Eine Geste des Erwürgens
genügt, blitzschnell, solange der Kardinal die Augen geschlossen hat. Cavendish
legt eine Hand an den Hals, er hat verstanden. Und dann sehen sie sich an,
verlegen. Einer von ihnen hat zu viel gesagt, einer von ihnen hat zu viel
gefühlt. Es ist nicht leicht zu erkennen, wo die Waage
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