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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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Ordnung.« Er geht schnell
ins Nebenzimmer. »Ihr könnt kommen und es ansehen.«
    Sie drängen herein, rempeln
sich gegenseitig an. Eine kurze abschätzende Stille tritt ein. Sie verlängert
sich. Alice sagt: »Er lässt Sie recht korpulent wirken, Onkel. Mehr als nötig.«
    Richard sagt: »Wie Leonardo
uns bewiesen hat, wehrt eine gerundete Oberfläche den Aufprall von
Kanonenkugeln besser ab.«
    »Ich finde nicht, dass Sie so
aussehen«, sagt Helen Barre. »Ihre Gesichtszüge sind gut getroffen, das kann
ich sehen. Aber das ist nicht der Ausdruck auf Ihrem Gesicht.«
    Rafe sagt: »Nein, Helen, den
reserviert er für Männer.«
    Thomas Avery sagt: »Der Mann
des Kaisers ist hier, kann er hereinkommen und einen Blick auf das Bild werfen?«
    »Er ist willkommen, wie
immer.«
    Chapuys tänzelt herein. Er
stellt sich vor dem Gemälde auf; er hüpft nach vorn; er springt zurück. Er
trägt Marderfelle über Seide. »Großer Gott«, sagt Johane hinter vorgehaltener
Hand, »er sieht wie ein Tanzäffchen aus.«
    »Oh nein, ich fürchte, nein«,
sagt Eustache. »Oh nein, nein, nein, nein, nein. Ihr protestantischer Maler hat
das Ziel dieses Mal verfehlt. Denn man denkt nie an Sie allein, Cremuel,
sondern immer in Gesellschaft, wo Sie die Gesichter anderer Leute mustern, als
ob Sie selbst sie malen wollten. Bei Ihrem Anblick denken andere Männer nicht
>Wie sieht er aus?<, sondern >Wie sehe ich aus?<. Chapuys huscht
durch den Raum, dann schwingt er wieder herum, als wolle er das Bild im Akt der
Bewegung erfassen. »Und doch. Wenn man Sie so betrachtet, würde man Sie nur
ungern verärgern. In diesem Punkt, denke ich, hat Hans sein Ziel erreicht.«
    Als  Gregory aus Canterbury
nach Hause kommt, führt er ihn allein zu dem Gemälde; Gregory ist noch in der
Reitjacke, schlammbespritzt von der Reise; er möchte die Meinung seines Sohnes
hören, bevor er den Rest des Haushalts trifft. Er sagt: »Deine Frau Mutter
sagte immer, sie habe mich nicht wegen meines Aussehens gewählt. Ich war überrascht,
als das Bild kam und ich feststellte, dass ich eitel bin. Ich dachte daran, wie
ich war, als ich vor zwanzig Jahren aus Italien wegging. Bevor du geboren
wurdest.«
    Gregory steht an seiner
Schulter. Seine Augen ruhen auf dem Porträt. Er sagt nichts.
    Er stellt plötzlich fest, dass
sein Sohn größer ist als er: nicht dass dazu viel gehört. Er tritt zur Seite,
wenn auch nur in Gedanken, um seinen Jungen mit dem Blick des Malers zu
betrachten: ein Junge mit schöner weißer Haut und haselnussbraunen Augen, ein
schlanker Engel aus der zweiten Reihe auf einem Fresko, das von Feuchtigkeit
gesprenkelt ist, weit weg von hier in einer Stadt auf einem Hügel. Er sieht ihn
als Knappen auf Pergament, wie er durch einen Wald reitet und seine dunklen
Locken sich hübsch unter einem schmalen Goldreif ringeln; im Gegensatz dazu die
jungen Männer, die er täglich um sich hat: muskulös wie Kampfhunde, das Haar zu
Stoppeln geschoren, Augen so scharf wie Schwertspitzen. Er denkt: Gregory ist
alles, was er sein sollte. Er ist alles, auf das ich mit Recht hoffen darf:
seine Offenheit, seine Sanftheit, die Zurückhaltung und Umsicht, mit der er
seine Gedanken für sich behält, bis er sie formuliert hat. Er empfindet eine
solche Zärtlichkeit für ihn, dass er glaubt, er müsse weinen.
    Er wendet sich dem Bild zu. »Ich fürchte, Mark hatte
recht.«
    »Wer ist Mark?«
    »Ein alberner Junge, der George Boleyn nachläuft. Ich
habe ihn einmal sagen hören, dass ich wie ein Mörder aussehe.« Gregory sagt:
»Wusstest du das nicht?«
     
    TEIL
SECHS
     
    Supremat
    1534
     
    In den heiteren Tagen zwischen
Weihnachten und Neujahr, während der Hof feiert und Charles Brandon in den Fens
ist und auf eine Tür einbrüllt, liest er noch einmal Marsilius von Padua. Im
Jahr 1324 legte er uns zweiundvierzig Thesen vor. Als  das Dreikönigsfest
vorbei ist, macht er sich auf, um Henry ein paar davon zu unterbreiten.
    Einige dieser Thesen kennt der
König, einige sind ihm fremd. Einige passen genau zu seiner gegenwärtigen
Lage; einige sind ihm als Ketzerei angeprangert worden. Es ist ein Morgen von
strahlender, bis in die Knochen gehender Kälte, ein schneidender Wind weht ihm
vom Fluss hinauf ins Gesicht. Wir schneien herein, um alles auf eine Karte zu
setzen.
    Marsilius sagt uns, dass
Christus, als er in diese Welt kam, nicht als Herrscher oder Richter kam,
sondern als Untertan: Untertan des Staates, wie er ihn vorfand. Er trachtete
nicht danach zu herrschen und

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