Mantel, Hilary
diesen Ort nicht verlassen?«
»Sie sollten ein Stück
schreiben«, sagt More verwundert.
Er lacht. »Vielleicht mache
ich das.«
»Es ist besser als Chaucer.
Worte. Worte. Nichts als Worte.«
Er dreht sich um. Er starrt
More an. Es ist, als hätte das Licht gewechselt. Ein Fenster zu einem
merkwürdigen Land hat sich aufgetan, wo der kalte Wind der Kindheit weht.
»Dieses Buch ... War es ein Wörterbuch?«
More runzelt die Stirn.
»Entschuldigung?«
»Ich kam die Treppe in Lambeth
hinauf - warten Sie einen Moment ... ich rannte die Treppe hinauf und trug Ihr
kleines Maß Bier und Ihr Weißbrot, sollten Sie nachts aufwachen und Hunger
haben. Es war sieben Uhr abends. Sie lasen, und als Sie aufsahen, hielten Sie
Ihre Hände über das Buch«, er formt Flügel mit den Händen, »als wollten Sie es
beschützen. Ich fragte Sie: Master More, was ist in diesem großen Buch? Sie
sagten: Worte, Worte, nichts als Worte.«
More neigt den Kopf zur Seite.
»Wann soll das gewesen sein?«
»Ich glaube, ich war sieben.«
»Ach, Unsinn«, sagt More
freundlich. »Ich kannte Sie nicht, als Sie sieben waren. Nun, Sie waren ...« Er
runzelt die Stirn. »Sie müssen ... und ich war ...«
»Kurz davor, nach Oxford zu
gehen. Sie erinnern sich nicht. Aber warum sollten Sie auch?« Er zuckt mit den
Achseln. »Ich glaubte damals, Sie würden mich auslachen.«
»Oh, das habe ich
höchstwahrscheinlich auch getan«, sagt More. »Falls ein solches Treffen
wirklich stattgefunden hat. Ganz anders heutzutage: Sie kommen hierher und
lachen mich aus. Wenn Sie über Alice sprechen. Über meine weißen Beinchen.«
»Ich glaube, es muss ein
Wörterbuch gewesen sein. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht daran erinnern?
Nun ... meine Barke wartet, und ich möchte die Ruderer nicht so lange der Kälte
aussetzen.«
»Die Tage sind sehr lang hier
drin«, sagt More. »Die Nächte sind noch länger. Ich habe es auf der Brust. Kann
schlecht atmen.«
»Dann also zurück nach
Chelsea, Dr Butts kommt vorbei: Aber, aber, Thomas More, was haben Sie denn
gemacht? Halten Sie sich die Nase zu und trinken Sie diese scheußliche Mixtur
...«
»Manchmal denke ich, dass ich
den Morgen nicht erlebe.«
Er öffnet die Tür. »Martin?«
Martin ist dreißig, drahtig,
sein blondes Haar unter der Kappe ist bereits dünn: ein nettes Gesicht mit
einem knittrigen Lächeln. Seine Heimatstadt ist Colchester, sein Vater
Schneider, und lesen gelernt hat er mit Wycliffes Evangelium, das sein Vater
unter dem Dach im Reet versteckt hatte. Jetzt gibt es ein neues England, ein
England, in dem Martin den alten Text abstauben und seinen Nachbarn zeigen
kann. Er hat Brüder, alle sind sie Bibelleute. Seine Frau wartet gerade auf die
Geburt ihres dritten Kindes, »ist ins Stroh gekrochen«, wie Martin das
ausdrückt.
»Gibt es schon Neuigkeiten?«
»Noch nicht. Aber werden Sie
Pate? Thomas, wenn es ein Junge wird, und wenn es ein Mädchen wird, suchen Sie
den Namen aus, Sir.«
Ein Handschlag und ein Lächeln.
»Grace«, sagt er. Ein Geldgeschenk ist selbstverständlich, der Start ins Leben
für das Kind. Er wendet sich noch einmal dem kranken Mann zu, der über seinem
Tisch zusammengesackt ist. »Sir Thomas sagt, dass er in der Nacht kurzatmig
ist. Bringen Sie ihm Polster, Kissen, was immer Sie finden, stützen Sie ihn ab,
damit ihm das Atmen leichter fällt. Ich möchte, dass er jede Gelegenheit
erhält, seine Position zu überdenken, dem König seine Loyalität zu zeigen und
nach Hause zu gehen. Und jetzt wünsche ich Ihnen beiden einen guten
Nachmittag.«
More sieht auf. »Ich möchte
einen Brief schreiben.«
»Natürlich. Sie bekommen Tinte
und Papier.«
»Ich möchte an Meg schreiben.«
»Dann schicken Sie ihr ein
paar menschliche Worte.«
Mores Briefe sind nicht
menschlich. Sie mögen an seine Tochter gerichtet sein, aber sie werden
geschrieben, damit seine Freunde in Europa sie lesen.
»Cromwell ...?« Mores Stimme
ruft ihn zurück. »Wie geht es der Königin?«
More ist immer korrekt, nicht
wie jene, die sich versprechen und »Königin Katherine« sagen. Wie geht es
Anne?, meint er. Aber was könnte er ihm erzählen? Er ist schon auf dem Weg. Er
ist aus der Tür hinaus. Eine blaue Dämmerung hat das Grau in dem schmalen Fenster
abgelöst.
Er hatte ihre Stimme aus dem
Nebenzimmet gehört: leise, unnachgiebig. Henry schrie empört auf. »Ich war es
nicht! Ich nicht.«
Im Vorzimmer Thomas Boleyn,
Monseigneur, das schmale Gesicht erstarrt. Ein paar
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