Mantelkinder
„generalisierte genetische Analyse“ anzuordnen, verwies auf die Kosten, die ein Massengentest verursachte und führte verfassungsrechtliche Bedenken an. Immerhin handelte Breitner einen Kompromiss aus: Bei einem begründeten Anfangsverdacht, einem nicht ganz astreinen Alibi zum Beispiel, würde er ohne Verzögerung seine Genehmigung erteilen.
Das aber hieß für die Polizisten, die „Ochsentour“ zu machen. Sie mussten alle Männer, die Claudia gekannt hatten, nochmals vernehmen. Für diese Aufgabe stellte Susanne den größten Teil der SOKO ab. Die anderen suchten weiter nach dem Faden, der die Familien Klausen und Seibold verband.
Susanne und Hellwein nahmen sich die Männer vor, die sie nicht kannten, weil sie von anderen Beamten befragt worden waren. Sie hofften auf ein Wort, einen Satz oder einen Namen, der vielleicht im Wust der ganzen Protokolle untergegangen war.
Jetzt statteten sie Josef Schmitz einen Besuch ab. Er war Wolfgang Seibolds bester Freund und oft bei der Familie gewesen. Der „Onkel Jupp“, der mit den Kindern schwimmen ging und alljährlich den Nikolaus spielte.
Er war ein blonder Hüne mit Dreitagebart und gutmütigem Gesicht und wirkte nervös, als er den beiden Polizisten in dem überladenen Wohnzimmer gegenübersaß. Der Raum war vollgestopft mit Porzellanfiguren aller Art, vom trompetenden Engel bis zum Milchkännchen in Katzenform. Mehrere Setzkästen, in denen Miniaturen dicht an dicht standen, hingen über dem weiß-rosa geblümten Sofa und drei Pendeluhren tickten vernehmlich.
Das einzige, was Susanne an dem Zimmer gefiel, war eine großformatige unter Glas gerahmte Collage neben einer der Uhren. In Blau-und Silbertönen gehaltene Stoffstücke, Drähte und Vogelfedern bildeten ein abstraktes, harmonisch komponiertes Bild.
„Wie lange kennen Sie die Seibolds?“, begann sie schließlich.
Schmitz schien sich nicht zu wundern, dass er diese Frage, die ihm schon einmal gestellt worden war, beantworten sollte. „Wolfgang und ich, wir sind uns in einer Kneipe begegnet“, sagte er und schlang kompliziert die Finger ineinander. Ehe er weiterredete, rutschte er bis auf die Kante des Sessels. „Wolfgang hatte ziemlich einen über den Durst getrunken, weil ein paar Stunden vorher die Zwillinge auf die Welt gekommen waren.“
„Das ist also ungefähr zehn Jahre her“, schloss Susanne. „Wie war das, als Claudia geboren wurde? Hat er da auch einen über den Durst getrunken?“
„Wir haben uns beide besoffen!“ Schmitz lachte kurz auf bei der Erinnerung. „In derselben Kneipe. Er war so stolz auf seine Bande.“
„Sie haben immer den Nikolaus gemacht, stimmt´s?“
Er lachte wieder, um gleich darauf todernst zu werden. „Bis letztes Jahr, ja. Da hat die Kleine …“
Unvermittelt schossen ihm Tränen in die Augen. „… die Kleine hat … sie hat mich angesehen und sich vor Wolfgang aufgebaut … Ich seh es noch vor mir … die Hände in die Hüften gestemmt …“
Schmitz fummelte ein Taschentuch aus seiner Jeans und schnäuzte sich. „Sie hat gesagt: `Mensch Papi! Wieso lässt du den Onkel Jupp den Bart anziehen? Da schwitzt man doch drunter!´ Danach … wir haben gedacht, dass wir das mit dem Nikolaus ab diesem Jahr nicht mehr machen … Und jetzt … jetzt …“
Er ließ seinen Tränen freien Lauf und Hellwein rutschte unbehaglich auf seinem Sessel herum. Weinende Männer machten ihn sichtlich nervös.
Susanne sah wieder auf die Collage, um Schmitz Zeit zu geben, sich zu beruhigen.
Kurz darauf schnaubte er wieder in sein Taschentuch und folgte ihrem Blick. „Hübsch, nicht? Meine Frau … meine Ex-Frau macht Seidenmalerei und so Sachen … Was ist denn?“
Susanne und Hellwein starrten ihn beide an. Dann stand sie auf und trat näher an das Bild. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen, ihre plötzlich rotierenden Gedanken in die richtigen Bahnen zu lenken.
„Seidenmalerei“, murmelte sie.
„Ja“, antwortete Schmitz sichtlich verwirrt. „Hauptsächlich Tücher. Wenn etwas verunglückt ist, macht sie aus den verwertbaren Resten solche Collagen.“
Hellwein stand ebenfalls auf und trat neben Susanne. Er fuhr mit dem Zeigefinger über den weißen Kunststoffrahmen des Bildes und sagte, ohne sich umzudrehen: „Tücher! Tücher … Schals …“
„Alles Mögliche. Die Schränke sind voll davon.“
„Sie haben noch Handarbeiten Ihrer Frau?“ Abrupt wandte sich Susanne zu ihm.
Auf seiner Oberlippe standen Schweißperlen, als er stotterte: „Na ja … Wir
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