Mantelkinder
Haus! Wir können doch nicht jedem …“
„Ich vertrete eine der betroffenen Familien“, unterbrach Chris ihn schnell und beruhigte sich damit, dass das nicht ganz gelogen war.
Der Geschäftsführer biss sich auf die Lippen und betrachtete eingehend seine manikürten Hände. „Hören Sie, es tut mir Leid, was da passiert ist, aber wir können Ihnen nicht helfen. Wir haben eine Stammkundenkartei, die sich die Polizei auch angesehen hat. Aber wir erfassen natürlich nicht jeden Käufer. Diesen Aufwand betreiben wir nur bei den wirklich wichtigen Leuten.“
Die letzten Worte begleitete er mit einem affektierten Hochziehen der Augenbrauen. Er bat Chris in eine ruhige Ecke, wo sich kein Kunde befand. Am liebsten hätte er ihn allerdings zum Ausgang geführt, das sah man ihm deutlich an.
„Ihre Kunden bestehen in der Hauptsache sicher aus Jägern und Leuten, die Trachtenmode bevorzugen“, bohrte Chris weiter.
„Nicht ausschließlich. Oft kommen auch Leute vom Land.“ Er sah Chris an, und die hängenden Mundwinkel schienen sich noch einmal ein paar Millimeter nach unten zu bewegen, als er hinzufügte: „Bauern.“
„Bauern. Aha.“
„Unsere Mode ist in … äh … ländlichen Gegenden sehr beliebt, ja. Außerdem haben wir in den letzten Jahren unser Sortiment etwas umgestellt.“
„Was heißt das?“
„Nun, die Zeiten in der Textilbranche sind hart.“ Der Geschäftsführer zupfte ein imaginäres Fädchen von einem der Dirndlkleider. „Wir sahen uns daher gezwungen, auch Bekleidung für andere Sportarten in unser Sortiment zu nehmen. Exklusive Sportarten, selbstverständlich.“
„Die da wären?“
„Oh, Reiten zum Beispiel. Segeln, Golf, Tennis.“
Chris atmete tief durch, als er endlich wieder auf der Straße stand. „Aufgeblasener Truthahn“, murmelte er und ging in ein kleines Café auf der anderen Straßenseite, wo er einen Cappuccino bestellte. Den würde er brauchen, wenn er die nächste Station seiner Recherche überleben wollte. Außerdem musste er nachdenken.
„Segeln“, hatte der arrogante Pinsel gesagt. Segeln gleich Wasser. Wasser gleich Karlscheurer Weiher, gleich Rhein. Aber gab es auf dem Rhein überhaupt Segelschiffe? Schnittige, schnelle Motorboote waren wohl eher die Regel. Andererseits brauchte man sicher eine ähnliche Bekleidung wie beim Segeln.
Und was bringt dir das jetzt, Sprenger?, dachte er und löffelte Milchschaum vom Kaffee. Nur weil bei Kunzeler Segelbekleidung verkauft wurde, konnte man nicht die Alibis aller Leute überprüfen, die auf dem Rhein herumschipperten. Und außerdem: Was verband wohl einen gestandenen Rheinskipper mit so einem Spucknapf wie dem Karlscheurer Weiher? Dort konnte man höchstens Tretboot fahren.
Bald machte er sich wieder auf den Weg, wählte kleine, stille Gassen, die parallel zur Fußgängerzone verliefen, und landete schließlich auf der Komödienstraße. Hier spürte man deutlich die Nähe zum Bahnhof und zum Dom. Auf der einen Straßenseite wechselten sich die protzigen Bauten von Privatbanken mit den schmalen Gebäuden kleiner Hotels ab. Mehrere Reisebusse standen davor und luden Heerscharen glühweinseliger Tagestouristen für die Rückfahrt ein. Auf der anderen Seite reihten sich die Andenkenläden. Nur drei Geschäfte stachen heraus, deren Schaufensterauslagen neben all den Bierkrügen mit Dom-Motiv und anderem Ramsch deplatziert wirkten. Die beiden teuersten Juweliere der Stadt wiesen mit kleinen Schildern extra darauf hin, dass die Ausstellungsstücke Imitationen waren und sich daher das Einschlagen der Scheiben nicht lohne. Das Haushaltswarengeschäft, das Chris ansteuerte, warb mit einem edlen chinesischen Service, dessen Preis in etwa dem Monatsumsatz von Chris entsprach.
Die Verkäuferin, die sich seiner annahm, war heute früh anscheinend in ihren Make-up-Topf gefallen. Vielleicht lächelte sie deshalb nicht. Weil sie gar nicht konnte unter dem starren Zeug. Wie hatte Lea mal gesagt? „Wenn du links draufhaust, fällt es rechts runter“. Aber die Frau war nicht ganz so blasiert wie die Leute bei Kunzeler — und sie war kompetent. Als Chris den Laden verließ, wusste er jede Menge über durchgefärbte Kerzen: Herstellungsverfahren, Qualitätsunterschiede, Farbstoffe und dergleichen mehr. Und sie bestätigte zum Teil seinen Verdacht, dass genau die Leute bevorzugt solche Kerzen verwendeten, die es sich leisten konnten, auch bei Kunzeler einzukaufen.
Trotz brennender Füße wollte er heute noch eine Station
Weitere Kostenlose Bücher