Mantelkinder
Buslinie, die Lindenthal mit dem Rest der Welt verband. Hier war Annika schon allein gewesen. War jemand aus dem Bus gestiegen und hatte sie angesprochen? Aber das war von der Polizei schon längst überprüft worden. Weder dem Busfahrer, noch den wenigen Passagieren, die man ermitteln konnte, war etwas aufgefallen. Auch die Anwohner konnten nichts Brauchbares beisteuern. Wie war es möglich, dass sich ein kleines Kind scheinbar in Luft auflöste?
Sie standen jetzt gegenüber dem Elisabeth-Krankenhaus. Die flachen, bogenförmig verlaufenden Stufen und das breite Eingangsportal sahen freundlich aus. Die Erinnerungen von Chris waren hingegen ziemlich unfreundlich, denn hier hatte er vor dreißig Jahren seine Mandeln eingebüßt. Damals durften die Eltern noch nicht bei den Kindern übernachten, und er, das „Mamakind“, war eine Woche lang nur in Tränen aufgelöst.
Das stimmte so sicher nicht. Trotzdem sah er mit einem gewissen Unbehagen auf den Eingangsbereich, wo einige Patienten dick eingemummelt standen und rauchten. Die Kranken, die am 16. November hier draußen gewesen waren, konnten der Polizei auch nicht weiterhelfen. Natürlich hatten sie Kinder gesehen. Jede Menge Kinder. All die, die aus dieser Richtung dem Kindergarten zustrebten. Aber niemand hatte ein einzelnes kleines Mädchen bemerkt, das erst danach hier vorbeigekommen sein musste. Weil es spät dran war. Weil es die roten Schuhe anziehen wollte. Weil es Schwierigkeiten mit den Schnürsenkeln gab.
Chris hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Was, wenn Annika pünktlich gewesen wäre? Hätte sie Freundinnen getroffen? Hätte der Mörder dann keine Gelegenheit gehabt?
Karin bog um die Ecke und ging an der Terrasse eines italienischen Restaurants vorbei, auf der erst in einem halben Jahr wieder Leben einkehren würde. Jetzt waren Tische, Stühle und Sonnenschirme verschwunden, und ein Haufen Laub lag vor dem niedrigen Mäuerchen, das die Terrasse umgab.
Plötzlich blieb Karin stehen und starrte angestrengt die Straße hinunter. „Welcher normale Mensch hat freitags Zeit?“, fragte sie.
„Puh — jede Menge. Leute, die Schichtdienst haben oder Vier-Tage-Wochen in Fabriken, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger …“
Karin brummte unzufrieden, weil sie einsah, dass diese Idee sie nicht weiterbrachte.
Als auch der letzte Nachzügler im Kindergarten verschwunden war, hatte sie endlich genug und schlug ein zweites Frühstück im Café Decker auf der Dürener Straße vor.
Da sagte Chris nicht nein. Zumindest würden seine Füße wieder aufgetaut sein, wenn er ins Büro kam.
Der Fußweg wäre für Karin zu weit gewesen, also nahmen sie den Wagen. Chris war einigermaßen fassungslos, als er einen Parkplatz nur hundert Meter vom Café Decker entfernt fand. Er schrieb das der frühen Stunde zu und schlenderte mit Karin die Straße entlang. Ausgiebig besahen sie sich die Auslagen in den Schaufenstern der vielen Geschäfte. Sie befanden sich unverkennbar auf dem zweitteuersten Pflaster Kölns. Edelboutiquen, italienische Schuhgeschäfte und namhafte Juweliere hatten hier ihre Filialen. Restaurants der Oberklasse warben mit dezenten Speisekarten und in einem Blumenladen sah Chris die teuersten Weihnachtssterne aller Zeiten.
Ohne große Hoffnung sah er wieder einmal Uhren an. Dicke Chronometer neben schwarzen Keramikuhren, quietschbunt, Edelstahl, dreieckig, sechseckig, scheußlich. Enttäuscht wollte er sich schon wieder abwenden. Aber dann sah er sie! Flach, das Gehäuse golden, die Zeiger schwarz, und bis auf ein erhabenes Pünktchen, das die „Zwölf“ darstellte, war das Zifferblatt eine ebene mattgraue Fläche.
„Och, ist die schön!“, rief er begeistert.
Karin trat neben ihn. „Welche?“
„Na, die da!“ Chris drückte seinen Zeigefinger an die Scheibe. „Neben diesem quadratischen Klotz. Die kleine, flache!“
„Hm“, machte seine Liebste nur.
„Gefällt sie dir nicht?“
„Geht so“, brummte Karin und wandte sich ab.
Sie muss ja auch nicht dir gefallen, sondern mir, dachte Chris trotzig. Dennoch war er enttäuscht, als er schließlich hinter Karin her trottete. Die schönste Uhr, die er je gesehen hatte, und Karin gefiel sie nicht besonders!
Neben dem Café Decker befand sich ein Geschäft, dessen Auslage ihm nur ins Auge sprang, weil sie der von Kunzeler ähnelte. Die gleichen edlen Markennamen, die gleichen Jagdutensilien. Als er einen Hundenapf aus Edelstahl entdeckte, der mit „€ 39“ ausgezeichnet war,
Weitere Kostenlose Bücher