Mantelkinder
durchblicken? Jetzt brütete er schon fast eine Stunde über den Angeboten von fünf Umzugsunternehmen und wusste immer noch nicht, welches das beste Preis-Leistungsverhältnis bot. Die eine Firma hatte Festpreise, die jedoch horrend waren, die andere rechnete nach „Mann-Stunden“ ab, die nächste wiederum sprach von Kubikmetern und Tagessätzen. Er musste wählen zwischen Möbel Ab-und Aufbauservice oder nicht, Leihkartons oder Kaufkartons, und, und, und.
Theos Anruf erlöste ihn schließlich. Er hatte zwei Anstreicher aufgetrieben, die an den Wochenenden im Januar und Februar zur Verfügung standen, jemand wollte den Schrank besichtigen und ein Gebrauchtmöbelhändler wollte alle anderen Sachen unbesehen übernehmen. Wenigstens das war also klar.
Als das Telefon gleich darauf wieder schellte, dachte Chris, Theo hätte noch etwas vergessen, aber es war Susanne.
„Die Spur ist tot, Chris“, sagte sie ohne jegliche Begrüßung. „Wir haben alle Leute aus Sonjas Umfeld, die in Lindenthal wohnen oder arbeiten, überprüft. Da ist nichts, null!“
„Was ist mit den Klausens?“, fragte Chris.
„Da bleiben über hundert Männer. Das schaffen wir einfach nicht!“
Nachdem er aufgelegt hatte, starrte er niedergeschlagen auf die gläserne Tischplatte. Als er den Laden auf der Dürener Straße entdeckt hatte, war er richtig euphorisch gewesen. Er war überzeugt, dass sich nun endlich etwas tun musste. Dass es eine heiße Spur gab. — Nichts gab es!
Er schrak zusammen, als die Nixe den Kopf zur Tür hereinsteckte und verkündete: „Frau Müller-Arnold ist da.“
„Lassen Sie sie zehn Minuten warten“, murmelte Chris. Wie sollte er auch noch damit klarkommen? Marion Müller-Arnold war Opfer einer Vergewaltigung geworden und hatte sich auf Empfehlung des „Weißen Rings“ an ihn gewandt. Und jetzt sollte das erste Gespräch stattfinden. Es würde so ablaufen, wie die meisten ersten Gespräche mit Vergewaltigungsopfern: Die Frauen mussten in Gedanken alles noch einmal erleben, und Chris stand dabei Höllenqualen durch.
„Alles in Ordnung, Chef?“ Die Nixe trat ganz ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
„Ist schon okay“, wiegelte er ab.
Aber so leicht ließ sie sich nicht abwimmeln. Sie blieb einfach stehen und sah ihn an.
Chris schob den schwarzen Ledersessel zurück, stand auf und trat ans Fenster. In den Büros gegenüber flammten Neonröhren auf. Im grellen Licht sah man Stahlschränke und eine Kopiermaschine, an der sich ein Mann im roten Overall zu schaffen machte.
„Wir haben noch sechsunddreißig Stunden“, sagte Chris gegen die Scheibe. „Sechsunddreißig Stunden, bis das nächste Kind verschwindet. Sechsunddreißig Stunden, in denen man die Alibis von mehr als hundert Leuten überprüfen müsste. Und keine achtundvierzig Stunden mehr, bis auch dieses Kind tot sein wird.“
„Es ist nicht Ihre Schuld“, antwortete die Nixe leise. „Sie haben getan, was Sie konnten.“
„Hab ich das?“ Chris lachte auf. Es klang bitter. „Und wieso werde ich das Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben?“
„Der ganze Fall ist ein gigantisches Puzzle. Und da Sie nicht alle Stücke selbst gelegt haben, können Sie auch nicht wissen, welches fehlt.“
Chris drehte sich herum und lehnte sich gegen die Fensterbank. Die Nixe hatte ihren Finger genau in die Wunde gelegt. Die Ermittlungsunterlagen zu Sonja und Annika kannte er nicht. All seine Informationen darüber stammten aus dritter Hand. Natürlich, Susannes Berichte waren umfassend gewesen, aber wirklich jedes Detail wusste er garantiert nicht.
Er schüttelte den Kopf und presste Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel. Es stieg heiß in seinem Magen auf, als er sagte: „Wir machen einen Fehler, Nixchen. Wir alle machen einen gottverdammten Fehler.“
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„Nein!“, schrie Gregor. „Nein. Wir machen das nicht mehr! Verstehst du? Wir hören auf damit!“
„Du musst wissen, was du tust“, antwortete Lucia schnippisch. „Ich bin schließlich nicht das Mantelkind!“
„Merkst du denn nicht, dass es so nicht funktioniert?“ In Gregors Stimme lag Verzweiflung. „Zwei Opfer haben wir Ihm gebracht. Aber Er schweigt immer noch. Wie Er all die Jahre geschwiegen hat.“
„Wir müssen eben noch deutlicher werden“, überlegte Lucia laut. „Damit Er endlich versteht.“
„Deutlicher? War Sonja nicht deutlich genug? Waren wir seitdem nicht jeden Abend in der Kirche und haben gebetet? Aber alles war umsonst!
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