Mantramänner
den Weg zum Büfett. Ich blieb noch immer auf dem Sofa sitzen, sah dem Himmel draußen zu, wie er ein immer tieferes und immer satteres Dunkelblau annahm, und ließ meine Gedanken fließen. Ab und zu nickte mir jemand zu, aber gleichzeitig fühlte ich mich, als wäre ich unsichtbar. Als hätte ich ein Stoppschild an meine eigene Aura gehängt, auf dem stand: Vorsicht, wegen vorübergehender Unordnung geschlossen.
Toll, was man mit einer Aura so alles anstellen konnte. Und bis vor ein paar Monaten hatte ich noch nicht einmal gewusst, dass ich eine hatte!
Außerdem war ich vollkommen zufrieden, so allein unter Menschen zu sein an diesem Abend. Und dabei über den einen nachzudenken, den ich immer weniger verstand. Und in den, ich musste es zugeben, ich mich immer mehr verliebte.
Zehn Tage war das Sommerfest in Sivs Yogazentrum nun her, und seitdem hatte ich ihn genau dreimal gesehen. Zweimal war es in einer Yogastunde gewesen, und ich hatte vergeblich auf irgendein Zeichen von ihm gewartet, einen Blick oder eine flüchtige Berührung, die anzeigte, dass er sich überhaupt noch an – wie sollte man es nennen? Unsere Knutscherei? Unseren Einbahnstraßensex? – erinnern konnte. Nichts.
Gut, es gab manchmal Nächte nach Partys, die am nächsten Morgen etwas verschwommen schienen. Aber schließlich war er stocknüchtern gewesen. Ob es ihm im Nachhinein doch unangenehm war, was ihm passiert war? Bei der Meditation hatte ich jedenfalls in diesen beiden Stunden total versagt. Statt die Gedanken ziehen zu lassen, hatte Sivs Stimme jedes kleine Detail erneut heraufbeschworen: seine Berührungen, seinen Blick, seinen Duft. Bedauerlicherweise auch das unrühmliche Ende unserer Begegnung.
Und dann hatte er gestern Abend einfach so vor der Tür gestanden. Und jetzt war schon wieder alles anders.
Wir hatten nicht miteinander geschlafen. Im Gegenteil. Wenn möglich, waren wir noch weiter davon entfernt gewesen als beim
ersten Mal. Aber irgendetwas war gestern Abend zwischen uns geschehen. Etwas, das man nicht in Worte fassen konnte. Etwas zutiefst Spirituelles. Eine Art Seelenkuss.
Wir hatten kaum gesprochen. Nur wieder auf meinem Bett gelegen. Diesmal hatte Siv nichts dagegen gehabt, dass ich ihn berührte. Zumindest auf eine sehr jugendfreie Weise. Es war alles sehr zart gewesen, und wir hatten uns geliebt wie Wesen ohne Unterleib.
»Du brauchst Heilung«, hatte er sehr sanft zu mir gesagt, während er meinen Rücken streichelte, seine Finger auf bestimmten Punkten länger verweilen ließ, bis es mir einen Schauer über die feinsten Nervenbahnen jagte.
»Und du kannst sie mir geben?«, hatte ich gefragt.
Er hatte den Kopf gewiegt. »Vielleicht«, sagte er. »Nicht der Bedürftige sucht den Heiler. Das Heilende und das Leidende verbinden sich von selbst.«
Dann war er eingeschlafen. Und erst heute Morgen wieder aufgewacht, noch immer eng umschlungen in meinen Armen. So schön war ich schon lange nicht mehr geweckt worden.
Seit …
Okay. Stopp. Nicht schon wieder. Wenn ich jetzt Chris ins Spiel brachte, dann wurde es nur wieder kompliziert. Und kompliziert, das war mein Leben ohnehin genug.
»Na, schöne Frau? Ganz in Gedanken?«
Ich hob den Kopf und schüttelte mich, um geistig wieder auf meinem Sofaplatz anzukommen. Über mir stand Nadine. Sie sah atemberaubend aus.
Und das lag nicht nur an ihrem meergrünen Samtkleid. Das lag eher an einem sehr verräterischen Glitzern in den Augen, als hätte sie vor dieser Party schon eine interessante Begegnung hinter sich gebracht.
»Weißt du, wie du aussiehst?«, fragte ich sie. »Wie eine Meerjungfrau, die gerade den Sex ihres Lebens hatte.«
»Dann wäre sie aber keine Jungfrau mehr.«
»Lenk nicht ab. Hast du oder hast du nicht? Und mit wem?«
Nadine lächelte durchtrieben und entblößte ein paar spitze Eckzähne.
»Eine Gentlewoman genießt und schweigt«, antwortete sie. »Seit wann stellst du denn so direkte Fragen? Nachholbedarf?«
Ich wiegte den Kopf und lächelte vielsagend. »Das kann man so sehen oder so.«
»Sehr weiser Spruch, Sweetie. Beinahe buddhistisch. Ich würde es etwas klarer ausdrücken.«
Sie ließ sich neben mich aufs Sofa plumpsen, faltete ein Bein unter das andere und prostete mir mit einem Rotweinglas zu.
»Evke, du bist ein klarer Fall von oversexed und underfucked.«
Ich rümpfte die Nase. »Und du bist immer gleich so drastisch. Es muss doch schließlich nicht immer gleich um Sex gehen, oder? Ich denke mittlerweile sowieso, das wird
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