Mantramänner
beherrschen, Lebenskraft zu erlangen oder wiederzugewinnen.
Am Abend des schwärzesten Dienstags meines Lebens redeten wir lange, mein Vater und ich. Und am Ende war ich beinahe glücklich. Nicht nur weil die Neuigkeiten aus Hansjörgs Welt mich von meinem jüngsten Siv- und Melli-Desaster ablenkten. Auch weil ich erfuhr, wie viele Gedanken mein Vater sich gemacht hatte.
Er hatte einen Fehler gemacht, er hatte mich auflaufen lassen, er hatte mir etwas Wichtiges verschwiegen. Doch er hatte es nicht aus Boshaftigkeit getan, nicht einmal aus Gleichgültigkeit.
Mein Vater hatte vielleicht nicht das stärkste Rückgrat aller Zeiten. Aber eines hatte ich verstanden: Er liebte mich.
Als ich auf den Türsummer drückte, war ich noch keineswegs so milde gestimmt. Unwirsch riss ich die Wohnungstür auf, hörte zögernde Schritte auf den Treppenstufen und zerrte meinem Vater schließlich wortlos die Scherben des Terrakotta-Übertopfes aus der Hand, die er mir entgegenstreckte wie eine übereilte Friedenspfeife.
»Hier«, sagte er, »die haben nicht mehr in den Straßenmülleimer gepasst, weil das Bäumchen so groß war. Hatte übrigens total faulige Wurzeln. Du darfst deine Pflanzen nicht so zuschütten, davon gehen sie kaputt.«
»Du kannst gleich wieder gehen«, knurrte ich, »wenn du mir jetzt Vorträge über Hobbygärtnerei halten willst.«
Er versuchte, mich in den Arm zu nehmen. Ich riss mich los und warf mich auf das Sofa. Dann schleuderte ich die Scherben auf den Teppich und die Flipflops von meinen Füßen. Mein Vater blickte sich suchend um, fand aber keine andere Sitzgelegenheit. Ich dachte überhaupt nicht daran, ihm eine anzubieten.
Und da tat er etwas Verblüffendes. Er ließ sich erstaunlich sportlich im Schneidersitz auf dem Teppich vor mir nieder, ergriff meine nackten Füße und begann, meine Zehen zu massieren. Ich war zu verdattert, um sie ihm zu entziehen.
»Evke«, begann er sanft, »mein liebes Mädchen.«
Das hätte er nicht sagen sollen. Gleich würde ich anfangen zu heulen. Und dann würde er mich auf den Schoß nehmen und wiegen, als sei ich wieder sieben Jahre alt und die hinterhältige Nachbarstochter hätte mich mit ihrem Holzclog vertrimmt. Und dann musste ich ihm sofort alles verzeihen, weil er mein Papa war, weil er so stark war und alles Böse auf der Welt von mir fernhielt.
Bevor meine Stimmung allzu harmoniesüchtig wurde, sprach er bereits weiter.
»Ich weiß«, sagte er, »das muss für dich ein Schock sein, dass du es auf diese Weise erfährst. Aber du musst zugeben, ich habe es immer wieder versucht, Kontakt mit dir aufzunehmen. Weil ich es dir natürlich selbst sagen wollte, dass ich … dass Ilona … ich meine, dass du große Schwester wirst. Aber du hast dich ja auch nie zurückgemeldet.«
»Ich wusste ja nicht mal, dass IPS, ich meine, dass Ilona und du euch überhaupt kennt!«, fuhr ich ihn an. »Wahrscheinlich hast du nicht mal kapiert, dass ich im gleichen Unternehmen arbeite wie sie! Du konntest dir ja schon damals nie den Namen von meinem Chef merken!«
»Ach, der Herr Bäcker!«, mein Vater lachte unsicher und knetete meine Knöchel. »Hat sich euer Verhältnis denn etwas verbessert?«
»Er heißt Berger«, gab ich eisig zurück, »danke der Nachfrage. Könnte kaum besser sein.«
Mein Vater atmete lang ein und noch viel länger wieder aus. Wahrscheinlich eine der Atemtechniken, die er im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte.
»Weißt du«, sagte er schließlich leise, »es kam alles viel schneller und überraschender, als du vielleicht denkst. Ich habe wirklich lange Zeit nicht gewusst, was Ilona beruflich genau macht. Schon gar nicht, dass ihr Kolleginnen seid.«
»Ihr hattet wohl Wichtigeres zu tun, als über eure Jobs zu sprechen«, gab ich bissig zurück, aber er ließ sich nicht provozieren.
»Da hast du gar nicht so unrecht«, sagte er, »wir hatten wirklich Wichtigeres zu tun. Aber nicht, was du denkst. Weißt du, wir hatten einfach so unglaublich viel zu reden. So viel ganz Entscheidendes.«
»Klar. IPS ist ja auch in der Kommunikationsbranche.«
Mein Vater arbeitete sich langsam von meinem Knöchel zu meiner Wade vor und blickte sehr konzentriert dabei drein.
»Kennst du das?«, fragte er schließlich leise. »Wenn du einen Menschen triffst und sofort das Gefühl hast, er dringt mit Worten in dein Inneres vor? Nicht das ganze Normalprogramm, diese Fragen nach Job, Auto, Reisen – sondern wenn man sich trifft und sofort auf einer ganz anderen
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