Manuskript des Teufels
Stillen.
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Kirschbaum konnte es kaum abwarten, aus D’Auberts Mund die Sicht der Dinge zu hören.
D’Aubert berichtete Kirschbaum von der Entstehung des Manuskriptes, von Pater Aloisius, dem Erstleser, vom verärgerten Abt und welche Irrungen, Wirrungen und Drohungen sich daraufhin zugetragen hatten. Natürlich auch, dass die Kirche ihm die Pistole auf die Brust gesetzt hatte.
„Oh je!“, stöhnte Kirschbaum mit gespielter Verzweiflung, „eine notariell beglaubigte eidesstattliche Erklärung? Dann muss ich wohl die Hoffnung, das Manuskript kurzfristig durchzuarbeiten, begraben. Aber es gehört zu meinen Geschäftsprinzipien, die Flinte nicht so schnell ins Korn zu werfen. Zumal, wenn es sich um eine solche Sensationsschrift handelt. Ich brenne darauf, mehr zu erfahren. Könntest du mir nicht doch vorab etwas zum Inhalt sagen?“
„Okay“, ging D’Aubert auf diesen Vorschlag ein, „dann lege ich mal los. Versprech mir, mich zu unterbrechen, wenn ich dich mit meinen theologischen Studien langweile.“
„Das wird nicht passieren“, lächelte Kirschbaum. „Das kann ich dir garantieren.“
„Es gibt einige wesentliche Bereiche, die ich abhandle. Ich versuche, sie pointiert darzustellen. Wo fange ich an? Mit dem Kreuz-Symbol. Kein anderes Symbol hat eine derart weltweite Verbreitung und eine solch ausgeprägte kulturelle und spirituelle Bedeutung. Es findet sich schon in archäologischen Funden und ältesten Einritzungen in Felshöhlen. Das Kreuzzeichen ist historisch älter als das Rechteck, das Dreieck oder der Kreis. Im Allgemeinen gilt folgendes: Die horizontale Linie steht für alles Irdische, die vertikale für das Überirdische und Spirituelle. Die Verbindung beider Linien symbolisiert die Einheit von Himmel und Erde, Gott und Mensch, Zeit und Ewigkeit. Christus starb an einem aufrechten Pfahl, griechisch staurós oder an einem Holz, xýlon. Nachweislich nicht am Kreuz. Erst im 2. oder 3. Jahrhundert nach Christi wird das ursprünglich heidnische Symbol als Wahrzeichen des Christentums verwandt. Besonders beeindruckt hat mich aber eine andere Darlegung: Es handelt sich dabei um die Ergebnisse unserer jahrelangen ikonographischen Untersuchungen von anikonischen Darstellungen in einer Felsenhöhle auf der kleinen indischen Insel Elephanta, östlich von Mumbai, dem früheren Bombay. Erstmals wurde hier das Kreuz als Symbol des Menschen dargestellt. Vor allem meinem geschätzten Kollegen Chandran Gubdha von der Mumbai-Universität haben wir die Entschlüsselung der Symbolbedeutung zu verdanken: Der untere senkrechte Teil des Kreuzes steht für das Körperliche, die Physis, der rechte horizontale für das Denken, den Geist, die Ratio, der linke horizontale Teil für die Gefühle, die Emotionen, die Psyche und die obere Vertikale für Spiritualität, für die Gottbeziehung des Menschen. Der Mensch atmet, denkt, fühlt und betet. Das Symbol Kreuz lässt sehr plastisch erkennen, dass sich die vier Striche oder Balken in der Mitte zu einer Einheit vereinen. Vergleichbar werden die vier Bereiche Soma, Emotio, Ratio und Credo im Menschen zu einer agierenden und reagierenden Einheit. Nimmt man dem Kreuz eine Seite weg, ist das, was bleibt, kein Kreuz mehr. Würde dem Menschen eine der vier Dimensionen genommen, wäre das, was übrig bleibt, kein vollwertiger Mensch mehr. Körper, Geist und Gefühle sind zweifelsfrei Realität. Wie realistisch aber ist die Spiritualität des Menschen, wie tatsächlich ist seine Gottbeziehung? Als einer der größten Denker in der Epoche des römischen Kaisers Nero gilt der griechische Philosoph und Geschichtsschreiber Plutarch. Wie aus seinen zahlreichen Schriften hervorgeht, stand er dem Glauben anderer Völker freundlich gegenüber: ‚Alle Völker dienen auf ihre Art und Weise einem Gott‘ hat er einmal gesagt. Und: ‚Du kannst Staaten sehen und Mauern ohne Gesetze, ohne Münzen, ohne Schrift. Aber ein Volk ohne Gott, ohne Gebet, ohne religiöse Übungen hat noch keiner gesehen‘. Oh, ich bin sehr ausführlich, nicht wahr?“
„Keine Sorge, ist sehr spannend zu hören. Du sprichst mir, wie man so schön sagt, aus der Seele.“
Professor D’Aubert war offensichtlich in seinem Element. „Gut, sehr gut, Efraim. Denn genau diese Tatsache nimmt einen fundamentalen Platz in meinem Manuskript ein. Dass die Gott-Beziehung ein realistischer und typischer Bestandteil des Menschseins ist.“
Kirschbaum schaute den Theologen vertrauensvoll und aufmunternd an: „Abgesehen
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