Manuskript des Teufels
bereits gesagt habe, ist unser Verstand aber unfähig, eine transzendente Dimension zu begreifen. Die Blume im Garten braucht Sonnenlicht, um zu blühen, zu gedeihen und ihre Schönheit zu entfalten. Der Pflanze fehlt aber die Dimension dafür, diese lebenspendende Sonne zu erkennen, diesen gewaltigen etwa 149,6 Millionen Kilometer entfernten, an seiner Oberfläche 5527°C heißen Gasstern unserer Galaxie mit einem Äquatordurchmesser von 1,4 Millionen Kilometern.“ Plötzlich schlug sich Stephan mit der flachen Hand gegen die Stirn: „Mir fällt gerade ein wunderbares Zitat ein: ‚Wir haben Gott. Wozu brauchen wir da noch einen Glauben an ihn‘.“
„Von wem ist das?“
„Du wirst es kaum für möglich halten. Es stammt von Karl May, den ich schon immer mit Begeisterung gelesen habe. Ein begnadeter und sehr gottverbundener Schriftsteller. Nachzulesen in seinem Buch ‚Ardistan‘.“
„Danke für die Aufklärung.“
„Gern. Weißt du, ich habe nichts gegen den Begriff Glaube oder Glauben, wenn er als Synonym für Gott-Verbundenheit gebraucht wird. Sie ist die edelste der vier allen Menschen eigenen Dimensionen. Spendet Nächstenliebe und ethische Werte. Denke nur an ‚Alle Menschen sind gleich‘. Also“, folgerte D’Aubert weiter, „in Bezug auf die wesenstypische Gottes-Dimension sind alle Menschen gleich. Hiermit besitzen alle Menschen etwas Gemeinsames. Diese spirituelle Gemeinsamkeit ist eine kraftvolle Größe, die Menschen, Länder und Ideologien übergreifend verbinden könnte.“
„Aber“, schaltete sich Efraim energisch ein, „die Realität sieht doch anders aus. Ich drücke es einmal überspitzt aus. Solange es Menschen gibt, schlagen sie sich im Namen Gottes die Köpfe ein, führen ‚heilige’ Kriege, denk an den islamischen Begriff, Dschihad’, unternehmen blutrünstige Kreuzzüge mit grausamen Waffen. Soldaten schwören heilige Eide, ihr Leben für Gott zu opfern. Da ist doch etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen, oder?“
„Ich kann dich beruhigen“, beschwichtigte D’Aubert. „Die Antwort auf deine Frage wird unmittelbar erfolgen. Dabei geht es um die eigentliche Dramatik meines Manuskriptes. Aber bedenken wir zunächst noch Folgendes“, hob D’Aubert hervor. „Jeder Mensch ist eine einmalige, einzigartige und unverwechselbare Persönlichkeit. Die unantastbare Würde eines jeden Menschen besteht in dem Recht und der Pflicht, für sein Leben in Selbstbestimmung, Autonomie und Mündigkeit die Verantwortung zu tragen. Und gerade deshalb erkennt und erlebt jedes Individuum seine physischen, psychischen und spirituellen Ambivalenzen, seine Fähigkeiten und Unfähigkeiten, seine Überlegenheit und seine Unterlegenheit, seinen Pioniergeist, aber ebenso seine Grenzen. In dieser Selbsterkenntnis liegt die Wurzel seines Sozialbedürfnisses, seiner Bereitschaft, sich in eine Gruppe, in eine Gesellschaft einzubringen. Er erwartet, dass die Gemeinschaft seine Schwächen kompensiert, dass er Unterstützung, Hilfe und Schutz findet. Andererseits strebt er danach, seine Talente, seine Überlegenheit und seine Überzeugungen in die Gesellschaft einzubringen, um diese mitzuprägen, um sich zu entfalten, um Anerkennung und Wertschätzung zu finden. Individuum und Gesellschaft sind vergleichbar mit einem Ehepaar. Die Partner bilden eine Einheit, in der liebevolle Harmonie, aber auch Missverständnisse, Reibereien, Eifersüchteleien und Streitigkeiten vorkommen. Die wesenstypische Gott-Beziehung lässt in jedem Menschen ein individuelles Gottesbild und damit eine individuelle Religiosität entstehen. Efraim Kirschbaum“, richtete D’Aubert eine direkte Frage an seinen Gast, „du bist doch ein gläubiger Mensch?“
„Na klar, was denn sonst“, stotterte Kirschbaum, von dieser Fragestellung überrascht. „Wie meinst du das?“
„Okay, dann verzeih mir, wenn ich an dieser Stelle mal eines der bekanntesten Bibelzitate pervertiere. In der Genesis im Kapitel1 des ersten Buch Mose heißt es: ‚Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, als Abbild Gottes schuf er ihn‘. Aber die Wissenschaft hat mich das Gegenteil gelehrt: ‚Jeder Mensch schuf Gott nach seinem Bilde‘.“
„Hallo, Stephan, ehrlich gesagt“, sprach Kirschbaum dazwischen, „sehe ich darin keinen Widerspruch. Warum sollte der Mensch nicht Ebenbild Gottes sein und dennoch ein Recht darauf haben, sich sein eigenes Bild von seinem Gott zu schaffen? Aufgezwungene oder vorgegebene Gottesbilder würden nicht
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