Mappa Mundi
böses Blut im Kielwasser. Mit sich nimmt er fast das ganze Geld und die spärlichen Wertsachen der Kommunenmitglieder. Was ihm gehörte, sollte ihnen gehören, und was ihnen gehörte, gehört nun mit Sicherheit ihm.
Wenn er sich in der fernen Zukunft daran erinnert, erscheint ihm dieser Teil seiner Erinnerung als dunkler Wald aus wuchernden Gefühlen, hauptsächlich Furcht und Abscheu. Er beschreitet einen steinigen Pfad. Auf allen Seiten bleiben ihm die Türen verschlossen. Die Menschen sprechen nicht mit ihm. Sein Lippenbekenntnis zum Kommunismus bringt ihn nur bis zu einem bestimmten Punkt, weil sich im Land schon neue Werte und andere Gedankensysteme verbreiten. Er versucht sein Glück näher am Zentrum, in Tula, doch die Zeiten sind so schwer, dass er sich sowohl die vorherrschenden Banden als auch die Polizei zum Feind macht. Er landet in Untersuchungshaft, und die Ermittlungen seiner angeblichen Straftaten bringen seine dritte Ausweisfälschung ans Tageslicht.
In die Kodeks – das sowjetische Vorstrafenregister – findet er als Alexei Kurchatow Eingang (er hat sich nach einem der hochrangigsten russischen Physiker benannt, den er aus einem Artikel in einer alten Zeitschrift kennt) und wird wegen Diebstahl eingesperrt, wegen Rauschgifthandels, Zuhälterei und einer Vielzahl weiterer, konstruierter Anschuldigungen, die das KGB von der bewährten Liste ausgewählt hat. Das KGB hat sich in den Fall eingeschaltet, weil die Benutzung gefälschter Ausweispapiere ein »Verbrechen gegen den Staat« darstellt. Er hat Glück, dass man ihn nicht in ein Gulag schickt. Stattdessen wird er auf Ersuchen eines klarsichtigen Beamten der Einwanderungsbehörde nach Moskau geschafft. Dort geht seine Akte verloren, und er verbleibt im U-Haft-Flügel eines Höllenlochs von Gefängnis, in dem er versucht, sich nicht mit Tuberkulose anzustecken, während ringsum die Männer an ihrem eigenen Blut ersticken.
Ausgerechnet hier lernt Alexei jene Leute kennen, die während der Neunzigerjahre der kommunistischen Partei in der Herrschaft über Russland nachfolgen sollen – die Mafia. Das KGB verliert im Oktober 1991 während seiner Auflösung jedes Interesse an Alexei; seine Angehörigen müssen sich nun Gedanken um die eigene Zukunft machen.
Die Schlüsselfigur, deren Bekanntschaft Alexei im Gefängnis macht, heißt Jurgenew – ein Mann mit einer Ausstrahlung, die an den Schatten einer Ratte erinnert, und der sowohl intelligent als auch bis ins Mark verdorben ist. Im Gegensatz zu Pavlo ist Alexei nun ein alter Kämpe, der einmal dem Pfad des jugendlichen Idealismus folgte und ihn im Namen des Eigennutzes und des Überlebenstriebs verlassen hat. Indem er sich den beiden einzigen moralischen Geboten unterwarf, die im Augenblick für Russland gelten, ist er endlich zu einem echten Charakter geworden.
Alexei begreift augenblicklich, was für einen Machtfaktor Jurgenew in der Gefängnis-Gemeinde darstellt – deren Mitglieder zumeist vor Zorn über ihre Rolle als Sündenböcke kochen: Staatsdiener, die von ihren Kameraden geopfert worden sind, um die öffentliche Ruhe zu wahren. Einige von ihnen, darunter auch Jurgenew, hatten in der Regierung Schlüsselpositionen innegehabt und sind fest entschlossen, dem Gefängnis zu entfliehen und wiederum Rache zu üben. Zu seinem Glück teilt Alexei die Zelle mit Jurgenew, denn diese Verbindung bewahrt ihn davor, einer der Sklaven zu werden, die sexuelle Befriedigung gewähren müssen, die Toiletten putzen, die Toiletteneimer ausleeren und all die anderen schmutzigen, entwürdigenden Arbeiten verrichten.
Jurgenew wiederum erkennt Alexei als geborenen Verbrecher mit ungewöhnlich scharfem Verstand. Vielleicht mit dem Gedanken an Familie und Reichsgründung beschafft er aus anderen Teilen des Gefängnisses Privatlehrer für Alexei. Als sein Schützling rückt Alexei zu Jurgenews Privatsekretär auf und erhält Unterricht in Naturwissenschaften, Sprachen, Mathematik und darin, wie man herrscht, während man unter dem Fuß des Unterdrückers liegt – was Jurgenew verschlagen und mit einer Stimme, die stolz und verächtlich klingt in ihrem klugen Weltverständnis, als »weibliche Schliche« bezeichnet.
So steigt Alexei ausgerechnet im Gefängnis fast ohne Umweg zur rechten Hand eines kleinen, hässlichen Gottes auf; drei Jahre lang organisieren und planen sie, bestechen und bedrohen, bis sie endlich freigelassen wurden und an der Spitze einer kleinen Armee aus unbarmherzigen Männern, so wild wie
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