Mappa Mundi
Straßenköter, in Moskau einrückten und sich augenblicklich mit Hauen, Stechen und Schießen den Weg zu Macht und Reichtum bahnen.
Jurgenew hat nur Geld im Kopf: Ein Philosoph ist er nicht. Er benutzt Alexeis überlegene Einsicht in die Politik und das Wesen der Menschen als sein Werkzeug, und das wird er so lange tun, wie es ihm passt oder bis er keine weitere Verwendung dafür hat. Alexei beobachtet, wie Jurgenews Macht anwächst, und sieht den Tag nahen, an dem die freigiebige Vaterratte sich gegen ihn wenden und seinen eigenen Sohn verspeisen wird. Alexei könnte sich des alten Mistkerls entledigen, doch er hat kein Interesse daran, ein weiterer Verlierer des Moskauer Abschaums in Ferragamos und Dior zu werden. Kurchatow hat seinen Zweck erfüllt und kann sich bei dem Versuch, Jurgenews Klauen zu entkommen, selbst umbringen.
Nach einem fehlgeschlagenen Waffengeschäft treibt Alexei Kurchatows Leiche mit weggeschossenem Gesicht im Abwasserkanal eines tschetschenischen Gettos. In der gleichen Nacht schreibt sich in einem anderen Moskauer Distrikt ein neuer Student an der Universität sein. Seine Anmelde- und Prüfungsunterlagen werden dankbar mit einer Hand voll US-Dollars und einer schweren Kiste voll russischem Bargeld entgegengenommen; die Banknoten sind so abgegriffen, dass das Fett zahlloser Fingerabdrücke sie fast völlig grau gefärbt hat.
So beginnt Juri Iwanow seine Laufbahn, der gut betuchte Moskauer Gelehrte, der über viele erstaunlich nützliche Mafiakontakte und Freunde in wichtigen Positionen verfügt. Die einzige Gefahr, die ihm droht, besteht in der Entdeckung – doch Jurgenew, sein einstiger Beschützer, ist eine ganze Weile sehr damit beschäftigt, dass die Polizei plötzlich so ungewohnt drastisch gegen das organisierte Verbrechen durchgreift. Alexei bleibt für immer tot – und mit ihm sind seine Korruption und seine Verzweiflung im Schmutzwasser ertrunken.
Juri hingegen ist ein Kultursnob. Er versteht sich auf die Mafia und hat einen herzlichen, aber distanzierten geschäftlichen Kontakt zu ihr; er ist ein guter Diener und ein höflicher Herr. Niemals würde er sich mit Gewalttaten die Hände schmutzig machen – im Gegensatz zu Alexei, der mehr Menschen erschossen hat, als er zu sagen wüsste. Juris Interesse gilt der Wissenschaft und dem Geist, und er studiert sie mit dem Eifer eines aufrichtig Bekehrten. Die Waffen seiner ehemaligen Brüder flößen ihm keine Angst ein. Einige bewundern ihn sogar aus der Ferne.
Juri verlegt sich auf die Psychologie, als gerade der Boom beginnt. Forschungsgelder, Preise und Auszeichnungen regnen aus den verschiedensten Richtungen auf ihn nieder, darunter auch vom FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB, die allmählich begreift, wie gut sie jemanden gebrauchen kann, der zu solch umfassender Täuschung fähig ist. Man bittet ihn, nach Deutschland zu reisen und dort zu studieren – im Westen zu spionieren und seine Arbeit fortzusetzen.
In Deutschland begegnet Iwanow zum ersten Mal einem Menschen, der sein Denken verändern wird, ohne dass er es selber ändert. Diese Person ist ein Professor, der zukünftige Nobelpreisträger Nikolai Kropotkin. Es war das Jahr des Jahrtausendwechsels, und allseits war das Gefühl des Neuanfangs spürbar. Als sie die Köpfe zusammenstecken, begreifen sie, welche Richtung dieser Neuanfang nehmen wird.
Iwanow sieht, dass nicht Gott, wie er einst glaubte, Herr des Geschicks ist; dass auch nicht er, wie er ebenfalls einst glaubte, das Geschick lenken wird; und dass auch nicht die Ideologie, wie er einmal glaubte, alles beherrschen kann – auch nicht Waffen oder Wissen, weder Einfluss noch Demokratie oder gleich welche Staatsform. Der Herr über die Menschheit ist so viel größer als all diese sehr kleinen, sehr alten und sehr fehlgeleiteten Ideen.
Solche Ideen erhält man, wenn man falsch herum durch ein Fernrohr blickt. Die richtigen Ideen kommen einem, wenn man sich nicht als Spieler in einem Spiegel oder als Splitter im Auge Gottes sieht, sondern als eine Welt, als ein Universum, in dem alles möglich und alles vorhanden ist.
Kropotkin und Iwanow änderten das Aussehen von allem durch die Art, wie sie es betrachteten. Sie postulierten, dass die Triebkraft, die jedes Leben beherrscht, den Strukturen des Gehirns entspringe und aus seinem Aufbau hervorgehe – einem Erbe, das vom Menschen über den Affen bis in längst vergangene Äonen zurückreiche, in denen wir noch so unkompliziert und so gestaltlos waren wie
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