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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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Quallen und uns außer dem rhythmischen Schwingen der Gezeiten nichts zu Bewusstsein kam.
    Keiner von beiden aber hätte das erkannt, wenn Iwanow nicht früher Hilel und all die anderen gewesen wäre. Erst aus seiner Vorgeschichte erwuchsen ihm Einfall und Überzeugung.
    Kropotkin und Iwanow nahmen Physiologie und Psychologie und verknüpften sie mit Memetik; dann begriffen sie – wenngleich ihre Erkenntnis nur eine Hypothese darstellte und nicht die ganze Wahrheit –, dass den Menschen die Idee von Fortschritt und Weiterentwicklung, Verbesserung und Erleichterung beherrscht, und dass dieser Memeplex, die schicke Artikulation des Überlebenstriebs, uns alle versklavt hält. Anders ausgedrückt, die Entwicklung von Mappa Mundi war, wie jede solcher Entwicklungen, ein notwendiges Ergebnis unserer eigenen Natur, so unwiderstehlich wie die Evolution selbst. Was wir ändern können, das ändern wir auch. Was uns in die Hände fällt, das benutzen wir. Was wir sehen, behaupten wir zu verstehen. Sobald die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt sind, wendet sich unser ruheloser Verstand den Verbesserungen zu.
    Juri Iwanow betrachtete das gesamte kulturelle Geschehen jener Tage – die Selbstvergessenheit, die Selbstbetrachtung und die ständige Selbstgeißelung zwecks Vervollkommnung unser Körper und unserer »holistischen« Persönlichkeiten – als genau den gleichen Impuls wie den Trieb zu religiöser Unbeirrbarkeit und nationalistischem Eifer, der Ain und seinen Vater so reizbar und der Vernunft oder Mäßigung so völlig unzugänglich gemacht hatte.
    Wenn wir Recht haben, werden wir erlöst. Wenn wir gut sind, werden wir erlöst. Wenn dies, jenes oder das andere zutrifft, werden wir erlöst. Perfektion und Reinheit, Ruhm und immer währendes Leben. Was war der Unterschied?
    Damals vermutete Iwanow nur, dass man überhaupt nichts tun könne, um erlöst zu werden. Der Tod ist so sicher wie die Steuern. Nichts lebt ewig. Das war die letzte, unfassbare Beleidigung.
    Iwanow und Kropotkin waren sich im Klaren darüber, dass der Tod zu ihren Lebzeiten nicht mehr besiegt würde. Deshalb, fanden sie, konnten sie ihn auch gleich vergessen. Vorher aber erreichten sie vielleicht etwas, wenn sie versuchten, den Menschen von der Sklaverei des Überlebenstriebs zu erlösen.
    Ihre Arbeiten fanden keineswegs freundliche Aufnahme. Bald schon wandte sich Kropotkin vielversprechenderen Projekten in seinem Heimatland zu, und die CIA sprach Iwanow an, ein neues Land mit größerem Reichtum könne ihn aufnehmen, wenn er ihnen bei einigen militärischen Projekten zur Seite stünde. Obwohl er dem Ruf folgte und US-Bürger wurde, hielt er an seinen alten Verbindungen fest und erklärte, er willige nur zum Schein ein, treibe ein Doppelspiel, füge seiner Sammlung nur noch ein neues Gesicht mehr hinzu.
    Weil sie seine Geschichte zum Teil kannten, glaubten sie ihm.

 
L EGENDE 4
M ARY D ELANEY
     
     
    Mary war dreizehn, als sie das Gebäude besuchte, das einmal als Haus der Familie in Centralia, Pennsylvania, gedient hatte. Ihre Schwester Shelagh begleitete sie. Sie hatten beide nicht hinfahren wollen, doch in seinem Testament hatte Gerry Delaney bestimmt, dass neben dem Friedhof, auf dem seine Eltern zur letzten Ruhe gebettet worden waren, an dem Fleck, wo einst die Sankt-Ignatius-Kirche stand, ein Gottesdienst abgehalten werde.
    Der Trailways-Bus bewegte sich langsam, mit endlosem Grollen, durch Städte, die den beiden Mädchen flüchtig bekannt waren – Washington und Philadelphia –, viel später dann durch Orte, von denen Mary noch nie gehört hatte und die Namen trugen wie Frackville und Shenandoah.
    Zwischen den Ortschaften, von denen jede kleiner und noch übler von der Wirtschaftskrise betroffen war als die vorhergehende, wand sich die Straße durch ein Gebirge mit sanften, grau-braunen winterlichen Bäumen, die einen weißen Himmel an den Boden hefteten. Mary versuchte zwischen den Massen aus dünnen Baumstämmen hindurchzublicken, doch zu dieser Zeit des Jahres drang selbst durch ihre laublosen Äste kaum Licht, und nach wenigen Metern wurde das Grau zu Schwärze, zu einem Nichts, bis es schien, als bewege sich der Bus auf einem schmalen Grat aus festem Boden zwischen zwei Abgründen unbekannter Tiefe.
    Gerry war ihr Onkel gewesen. Er war in Allentown gestorben, einem weiteren Namen auf einer Karte, die Mary für sich selbst auszufüllen hatte wie einen leeren Umriss in einem Malbuch. Sie stellte sich kleine Häuser mit

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