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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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schindelverkleideten Außenwänden und weißen Fensterrahmen vor, Straßen, die von den Stromleitungen mit schwarzen Netzen nachgezeichnet und von aufrechten Telegrafenmasten interpunktiert wurden, gelegentlich aufgelockert von einem grellen Reklamepfosten für McDonald’s oder einer Automatenwäscherei, doch blieb ihre Vorstellung vage und flach wie eine beiseite gestellte Filmdekoration. Das einzige räumliche Bild, das sie vor sich sah, zeigte Gerry selbst, einen schwergewichtigen Mann, der in einem anderen Leben Boxer gewesen sein konnte. Er war an der Tankstelle gestorben, an der er arbeitete, und hatte in einer Pfütze aus bleifreiem Benzin gelegen, die sich um ihn ausbreite, bis das Dampfrückführungssystem das Ausströmen unterband. Er hatte einen Herzanfall erlitten, als er sich vorbeugte, um die Zapfpistole in die Tanksäule einzuhängen.
    »Was für ein Glück, dass es keinen Funken gab«, hatte Marys Mutter nach einigen Augenblicken des Nachdenkens gesagt; es war ihre erste Reaktion auf die Neuigkeit. Mary hatte sie in entsetztem Schweigen angesehen. Was sie sagte, war zwar richtig, aber hatte sie nicht mehr zu sagen?
    Gerry war das Aushängeschild der Familie Delaney gewesen. Nach seinem Dienst in der Army hatte er mit seinem GI-Stipendium das College besucht und war Makler geworden, beging dann jedoch den Fehler, in den alten Bergbaustädten seiner Jugend zu bleiben, wo sowohl Grundbesitz als auch guter Wille billiger zu bekommen waren als anderswo. Mit seinem Geschäft blieb Gerry erfolglos, weil ihm das Talent zum Verhandeln fehlte: Er war zu nett. Anschließend verlegte er sich auf Versicherungen, brachte es aber nicht über das Herz, ausgerechnet den Menschen seine Policen aufzuschwatzen, die von den Gezeiten des Lebens ohnedies schon hoch oben in die Berge gespült worden und dort gestrandet waren. In Jim Thorpe, der Schweiz Amerikas, betrieb er eine Zeit lang eine Bar, musste den Ort aber wieder verlassen, nachdem eine Skilehrerin aus New York ihn der sexuellen Nötigung bezichtigt hatte. Er endete in Allentown als Tankwart der Nachtschicht und baute sich dort einen Schmerbauch aus Fett und Enttäuschungen auf, die ihn erdrückten.
    So viel hatte Mary sich zumindest nach allem zusammengereimt, was sie beim Abendessen hörte. Ihre Mutter behauptete sogar steif und fest, es habe Gerry da oben am Ende der Welt gefallen; er habe dort Freunde gehabt und das Geld und den Erfolg gar nicht vermisst, auf die er einst gehofft hatte.
    Während der Busfahrt jedoch konnte Mary es so ganz und gar nicht sehen. Hier ist es doch schon ein Ereignis, wenn eine Katze die Straße überquert, dachte sie, als sie durch das Fenster ein altes Postamt musterte, vor dem die ausgefranste Flagge apathisch im kalten Wind flatterte. Von den Säulen des hölzernen, einst schmucken Portikus blätterte die grüne Farbe ab und wehte davon. Ein paar Meter weiter, vor einer Bar namens The Blue Moon, umwarb ein vergilbtes Schild einen alten Chevy, der davor liegen geblieben war, mit einem samstäglichen Grillfest.
    Grillfeste. Um Gottes willen. An diesen Bergen war aber auch wirklich alles unheimlich. Die Grundstücke erstickten im Unkraut und den Hinterlassenschaften von Menschenhand: verrostete Maschinen, Traktoren, die auf den Feldern im Boden steckten, die sie einst gepflügt hatten, eingesunkene Farmhäuser, Dachziegel, Alteisen, Elektrokabel, Bruchstein, Kinderspielzeug, Plastikbehälter und Haushaltsabfall überall, Grabsteine für den Geist der Kohleindustrie. Mary konnte es gar nicht ansehen. Dieser Müll. Was für ein erbärmlicher, elender Misthaufen. Und mittendrin Lebenszeichen – ein Friseursalon, eine Autowaschanlage. Ein Grillfest. Pennsylvania und Transsylvanien hatten mehr gemein als bloß die paar Silben.
    Im Tal unter dem Örtchen mit dem Postamt, das einmal schmuck gewesen sein musste, wuchsen junge, gesunde Bäume auf den Narben des alten Kahlschlags. Eine kleine weiße Kirche und ein paar Grabsteine standen einsam auf weiter Flur und überblickten das leere Schweigen im lang gestreckten, engen Tal. Niemand war zu sehen. Mary hoffte, dass Gerry an einem Ort wie diesem ruhen würde, anständig und vergessen. Sie wollte ihn vergessen und hatte sich vorgenommen, nie wieder an ihn zu denken, sobald sie wieder in den Bus nach Pittsburgh gestiegen wären.
    Sie blickte Shelagh an, die immer wieder die Melodie eines Hits summte und den träumerischen Blick nach innen auf Mack gerichtet hatte, wen sonst: Mack von der

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