Mappa Mundi
Verkehr bis an einen Ort, der Columbia Island Marina hieß. Dort stiegen sie aus und gingen an Bord einer großen, weißen Motoryacht. Dort erwartete sie noch mehr Sekt. Sie öffneten eine dritte Flasche. Eine vierte. Auf dem Wasser. Schlammig-braunem, schmutzigem Wasser. Eine Plastikflasche trieb vorbei, farblos, zerdrückt, halb untergetaucht.
White Horse dachte an ihr Leben zurück, denn sie wusste, dass sie nichts mehr ausrichten konnte. Während der Sekt ihr die Kehle hinabrann und ihr Verstand weicher wurde, wünschte sie, sie wäre weniger ernst und lustiger gewesen. Sie wünschte, sie hätte eine Beziehung gehabt, die andauerte, und ein oder zwei Kinder, vielleicht drei, vielleicht sogar noch mehr. Gute Kinder wären es gewesen; die Mädchen stark, die Jungen stolz. Und Jude – sie hätte ihm beizeiten sagen sollen, dass sie ein Hohlkopf gewesen war, als sie die Politik so ernst nahm, dass sie ihn auf die falsche Seite trieb.
Ihre Tasche war noch im Auto.
Fassmeyer füllte ihr das Glas nach. »Sie trinken das Schiff trocken, meine Liebe«, sagte er, und sein schwarzes Gesicht teilte sich zu einem weißen Lächeln wie eine reife Frucht, die unter der grämlichen Sonne birst.
»Ich will nich’ sterben«, sagte sie zu ihm, das Gesicht so verzerrt, dass es ihr wehtat.
»Das weiß ich«, sagte er. »Glauben Sie mir. Ich will es auch nicht. Aber einer von uns muss, und ich bin es nicht.«
»Warum?«, fragte sie schleppend. Sie konnte kaum noch den Kopf hochhalten.
»Weil diese Welt zu groß und zu hässlich ist«, sagte er, plötzlich nicht im Scherz. »Darum.«
Er hatte Recht. Sie wusste es. Sie trank das Glas zur Neige aus.
»Nicht immer«, sagte sie und dachte an ihr Zuhause.
»Wie bitte?«
»Sie ist nicht immer so schlimm.« Sie konnte das Glas nicht mehr halten. Es fiel ihr aus der Hand und zerbrach auf den Decksplanken. »Ich erinnere mich …« Aber sie erinnerte sich nicht.
Sie hasste sich. Zeit, dass es zu Ende ging. Undeutlich sah sie Gebäude, die am Ufer vorbeizogen, das weiße Boot, das träge Wasser, den wolkigen Himmel. All das versuchte sie zu lieben, und doch war es bedeutungslos. Sie versuchte seine Gegenwart zu spüren, doch alles stieß sie zurück. Sie öffnete ihren Geist, hoffte, etwas außerhalb ihrer Selbst zu berühren, eine Seele, ein Gespenst.
Sie bemerkte nicht, wie sie das Bewusstsein verlor, sie begriff nur, dass es geschehen sein musste, als sich plötzlich über ihrem Kopf das kalte Wasser schloss.
White Horse war eine gute Schwimmerin. Sie hatte im Bach schwimmen gelernt, zusammen mit Jude, der im tieferen Wasser auf der Stelle trat und sie damit neckte, dass sie nicht die Füße vom Grund nehmen könne.
Nun konnte sie es. Sie hatte keinen Grund unter den Füßen.
Sie schwamm auf ihn zu, wollte ihn erreichen, wollte ihn untertauchen und ihm Wasser ins Gesicht spritzen. Sie sah ihn von ihrem Versteck unter dem Wasser. Sie würde insgeheim an ihn heranschwimmen und ihn in die Tiefe ziehen. Er würde sie nie sehen.
Sie trat um sich. Die Luft war schwer wie Blei und schmerzte ihr in der Brust. Ihr Gesicht und ihre Hände brannten.
Sie sah Jude in der sauberen Luft. Er streckte die Hände zu ihr aus. White Horse konnte sie fast berühren. Sie sah ihre eigenen Hände, die sie angespannt und schmerzerfüllt dem Licht und seinem Lächeln entgegenreckte.
»Vertrau ihr nicht!«, brüllte White Horse ihm zu, doch statt dass die Warnung aus ihrem Mund drang, strömte gierig das Wasser hinein. Kaltes Feuer schoss ihr in die Brust, drückte sie hinunter und erinnerte sie an den Moment, als sie aus ihrem Haus floh.
Während sie sank, spürte sie, wie Judes Fingerspitzen ihr über die Finger strichen. Sie versuchte aus ihrem Körper zu springen und zu fliehen, aber es dauerte noch ein Weilchen, bevor er sie entgleiten ließ.
15
Mary Delaney saß mit Rebecca Dix, ihrer Vorgesetzten aus dem Pentagon, in der gemeinsamen Besprechung des Wissenschaftlichen Beirats und des Verteidigungsministers und verfluchte die Zeit, die sie brauchten, um sich zu beratschlagen; murmelnd scharrten sie in den Sackgassen idiotischer, unwissenschaftlicher Ängste herum – Was, wenn es nicht funktioniert? Was, wenn Marburg doch nicht so tödlich ist, wie es letzte Woche noch hieß? Was, wenn wir alle von der Spitze des CNN-Turms springen; würden wir wirklich sterben, nachdem wir nach achtzehnhundert Fuß Erdbeschleunigung aufs Pflaster knallen, oder sollten wir lieber doch noch einen
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