Mappa Mundi
Bläschen aufstiegen. »Woher stammt es?«
Jude öffnete das Dossier auf der ersten Seite und blickte auf die Stempel. »Pentagon. Irgendwo dort. Meinst du, wir sollten es ihnen zurückgeben? Ich könnte es ihnen in einem neutralen Umschlag in den Briefkasten werfen.«
»Deine Fingerabdrücke.«
»Ich kann es auch persönlich abgeben und alles erklären.«
»Was willst du denn sagen?«
»Tja, das ist eine gute Frage.« Er schloss den Aktendeckel und grinste sie an, doch ohne jede Belustigung, obwohl seine Augen im schwachen blauen Schein der Labatt-Neonreklame eigenartig schimmerten.
»Wahrscheinlich erhalten wir daraus sowieso nicht mehr als Beweise für Persönlichkeitswechsel und seine Bewegungen«, sagte sie und ließ es wie eine Vermutung klingen. »Vor Gericht können wir damit nicht.«
»Ob er zu dem Team gehörte, das Deliverance entwickelt hat?«, fragte Jude. »Ich würde darauf wetten. Denk mal nach. Florida, Atlanta … nicht zu weit auseinander für einen kurzen Flug oder um etwas zu vertuschen. Und er ist der Kontaktmann.«
»Was willst du damit sagen?«
»Es ist ein großer Sprung.« Er leerte das erste Bier und zog das zweite näher. »Aber vielleicht will er Proben außer Landes schmuggeln, indem er das Netz seiner alten Freunde benutzt. Wer immer es kauft und als Erster zum Laufen bringt, dem sollte es das Bruttosozialprodukt wert sein, besonders, wenn er uns nicht ganz grün ist.«
»Iwanow …«, begann sie.
»Guskow, so heißt er jetzt«, verbesserte Jude sie und blickte in die Unendlichkeit der Bier-Optik.
»Guskow«, wiederholte Mary bedachtsam, »würde hier nicht beschäftigt werden, wenn man befürchten müsste, dass er eine dermaßen undichte Stelle ist. Hältst du das NSC für dämlich?«
»Nein.« Jude streckte den Arm vor und schob ihr mit den Fingerspitzen das Bier mitsamt Deckel zu. Dabei grinste er. Mary kannte diesen Hang zur Selbstzerstörung: Er wollte Gesellschaft. »Ich schätze, es sitzt voller Leute, die ihr eigenes Süppchen kochen, und dieser Papierstapel sagt, dass sie sich die Rezepte vom Falschen holen. Der Kerl hat zu viele Gesichter.«
Sie wusste nicht, ob sie darüber erleichtert sein sollte, dass er den richtigen Bogen nicht geschlagen und nicht erkannt hatte, dass das fehlende Puzzlestück Mappa Mundi hieß.
»Also, was meinst du? Weitermachen oder fallen lassen? Sag an.«
Steelguitarmusik erklang. Mary spürte die einsamen Prärie-Klänge bis in die Zähne, während sie fieberhaft überlegte, wie sie weitermachen sollte.
»Aber mit dem Fall deiner Schwester hat das nichts zu tun?«, fragte sie, um Zeit zu schinden.
»Das glaube ich eigentlich nicht.« Er schüttelte den Kopf, und sein Haar, das im schwachen Licht blauschwarz wirkte wie Schultinte, fiel ihm weich auf die Wangen und über die Schultern. Sie bemerkte, dass er es schon eine Weile nicht mehr geschnitten hatte.
»Dieses Zeug, das sie hatte – wenn sie es denn hatte –, war etwas anderes. Es basierte auf Micromedica. Es war anders. Er kann nicht bei beiden Projekten die Finger im Spiel haben.«
Die Stahlsaitenakkorde im Radio flossen ineinander über. Jude hatte noch nie so stattlich gewirkt wie jetzt, da er so niedergeschlagen war. Mary hätte ihn fressen können. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Ihre Gedanken flogen, sie plante konzentriert, konnte aber nicht aufhören, ihn anzusehen; sie spürte die Begierde, die sie schon so oft gespürt hatte. Bisher war Jude immer unerreichbar gewesen, aber jetzt? Sie musste übergeschnappt sein, auch nur daran zu denken.
»Ich finde, wir sollten nehmen, was wir haben, und es der CIA übergeben«, sagte sie. »Die sind für Guskow zuständig, sollen sie sich doch seinetwegen den Kopf zerbrechen.« Während sie das resignierte Nicken beobachtete, mit dem er reagierte, war sie ihm plötzlich unsäglich dankbar, dass er sich durch seine Kooperation mit ihr den eigenen Tod ersparte. Wenn er sich fügsam genug zeigte, konnte sie vielleicht alles auf diesem Stand halten und später weitermachen, wenn Guskow aus dem Spiel und das gesamte elende Projekt abgeschlossen war. Sie wurde in ihrem alten Prinzip schwankend, sich nie auf etwas einzulassen, auf das sie nicht verzichten konnte, und das machte sie ärgerlich. Wenn sie nicht aufpasste, verlor sie noch die Kontrolle über sich.
»Und die Micromedica-Geschichte?«, fragte sie. Gab er nun auch zu, in England gewesen zu sein?
»Ich habe das von jemandem untersuchen lassen.« Er trank
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