Mappa Mundi
viel, um sich daran festzuhalten.
Nach ihrer Ankunft in Washington widmeten Mary und Jude ein paar Stunden dem Bericht für Perez, in dem sie die entscheidenden Merkmale des Deliverance-Systems aufführten und beschrieben, wie es zu identifizieren war, was das Labor bei Kopierversuchen sehen würde und wem sie Erfolg zutrauten bei dem Versuch, Proben davon zu erhalten. Mary machte die Arbeit Spaß – es war wie in alten Zeiten. Bis auf Judes unterschwellige Traurigkeit kam es ihr vor wie jeder andere Fall, den sie mit ihm protokolliert hatte – aber diesmal spielten sie nicht mit zusammengeknülltem Schmierpapier unter dem Tisch Fußball, ließen keine Pizza kommen und hörten keine Baseball-Neuigkeiten heimlich im Hintergrund. Als sie den Bericht fertig hatten, war es kurz vor Mitternacht.
»Einen Drink?«, schlug sie vor.
Er nickte und blickte auf sein Pad. »Aber es ist schon spät, und ich muss früh los nach Montana.«
»Wir können es auch sein lassen.«
»Nein, schon gut.« Er zog das Jackett über und schaltete die Systeme für die Nacht herunter. »Ich muss sowieso was mit dir besprechen.«
Mary spitzte zwar die Ohren, drang aber nicht weiter in ihn. Sie gingen einige Blocks und bekamen noch eine Straßenbahn, in der am ganzen Körper gepanzerte Polizisten roboterähnlich patrouillierten. In der Nähe seiner Wohnung stiegen sie aus, wandten sich nach Süden und gingen ins Mulrooney’s, eine Bar, in der sie sich früher mit Posey Tavorian zu treffen pflegten, einem weiblichen Spitzel bei der russischen Mafia. Posey war eine Fundgrube an Informationen über undichte Stellen im Hochtechnologiesektor gewesen, bis man sie schließlich mit dem Gesicht nach unten im Schlachthof unter einem Haufen Viehinnereien fand, die gerade in den Fleischwolf sollten. Aus Achtung vor ihrem Andenken hatten Jude und Mary die Bar ein paar Monate lang gemieden, und dieses Fernbleiben war zur Gewohnheit geworden. Mary fragte sich, ob Jude einen besonderen Grund habe, ausgerechnet jetzt dorthin zurückzukehren.
Sie bestellten Bier und setzten sich in eine Ecke, wo sie allein waren. Im angenehmen Dämmerlicht und den leisen, aber zum Schweigen anhaltenden Country-Songs, für die das Mulrooney’s bekannt war, konnte Mary es kaum fassen, als Jude den beigebraunen Aktendeckel aus dem Koffer nahm und ihn vor sie auf die Mahagonitheke klatschte.
»Jemand hat mir das hier zugespielt«, sagte er und ließ noch einen Moment lang die Fingerspitzen darauf ruhen. »Ich weiß nicht wer, und ich weiß nicht wie. Gerade noch war er nicht da, und im nächsten Augenblick doch.« Er blickte sie an und seufzte, nahm die Hand von dem Ordner und ließ zu, dass sie ihn berührte.
Sie musste sich konzentrieren, um nicht zu zittern. Sie hatte von Anfang an richtig vermutet. Erleichtert und verwirrt zugleich blickte sie auf die alten, eselsohrigen Seiten.
»Woher …? Das weißt du nicht?« Sie blätterte und zwang sich zu dem Satz: »Das ist alles über unseren Russen.«
»Ja«, sagte er. »Alles.«
Als sie durch den Vorhang herabbaumelnder Löckchen spähte, merkte sie Jude an, dass er sehr lange darüber gebrütet hatte, bevor er es begriff. »Was, sogar diese bulgarischen Papiere?«
»Ein Mann mit vielen Persönlichkeiten.« Er trank sein Bier halb aus und winkte rasch dem Barkeeper um Nachschub. »Eine lange Geschichte.«
»Gott …« Sie drehte die vertrauten Karten um, den Kodeks-Eintrag … Jude konnte natürlich Russisch lesen, sie nicht. Er musste wissen, was das war. »Was ist das?«, fragte sie.
»Ein Gerichtsurteil«, sagte er. »Lebenslange Haftstrafe, aber nach drei Jahren war er wieder draußen.«
»Wieso?«
»Im Gefängnis hat er seinen Mafiaboss kennen gelernt und ist ins Geschäft eingestiegen. Achtzehn Monate, nachdem sie auf freien Fuß gesetzt wurden, waren beide tot.«
»Wie bitte?«
»Er nahm eine andere Persönlichkeit an und wandte sich der Wissenschaft zu. Frag mich, warum.«
»Warum?«
»Weiß ich nicht. Ich hatte gehofft, wir beide könnten es vielleicht herausfinden.«
»Und warum hast du mir vorher nie etwas davon erzählt?«
»Weil ich mir über einiges klar werden wollte.« Er rutschte auf dem Barhocker zurecht, kauerte sich über die Theke und betrachtete sein Bier. »Zum Beispiel, ob es Wirklichkeit ist. Ob es mit White Horse zusammenhängt. Ob es etwas zählt.«
Mary klappte den Aktendeckel zu und trank. Mit den Spitzen ihrer Fingernägel trommelte sie auf das Glas und sah zu, wie die
Weitere Kostenlose Bücher