Mappa Mundi
gehabt hatte –, und mit jedem Gebrauch schmolz dieser Vorrat zusammen. Bald würde alle Energie verschwunden sein, und dann ging es mit ihm zu Ende. Seine Empörung aber war noch immer stark und reichlich vorhanden. In keinem Universum, das er gesehen hatte, existierte so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit, doch er war entschlossen, auf die richtige Waagschale zu treten, solange er noch konnte – was nutzte ein Verstand, wenn man damit nicht die Dinge in Ordnung brachte?
Nur noch eins hatte er zu vollbringen: es den Mistkerlen heimzuzahlen, die aus ihm dieses Wunderwesen an Omnipotenz und Kurzlebigkeit gemacht hatten. Sein Wissen hatte ihn nicht bis zu einem Punkt erleuchtet, an dem er bereit gewesen wäre, ihnen zu vergeben. Gewiss eine menschliche Schwäche, und er hätte darüber hinwegsehen können, wären die betreffenden Individuen nicht ihren eigenen Beweggründen gegenüber so blind gewesen; schon ein Beweis von Reue oder auch nur von Zweifel am eigenen Tun hätte ihn in seiner Entschlossenheit ihnen gegenüber vielleicht wankend gemacht. Doch ihre Vorgehensweise hatte ihn überzeugt, dass er mit seiner Einschätzung ihrer Moral keinen Fehler beging; sie hatten ihn letztendlich verarscht. Sie profitierten von seinem Tod, und die Sorte kannte er.
Natalies Zustand rief nach ihm. Er konnte ihre Signatur an der Energiefläche ablesen; sie war wie keine andere. In der Nähe tauchte er auf. Sie waren allein zusammen in einem Büro: klein, voll gestopft, die Luft ungewöhnlich mit Chemikaliendämpfen belastet und ungewöhnlich frei von belebten Partikeln.
»Sie hätten es nicht so lange laufen lassen sollen«, sagte er. Ihr musste der Kopf zurechtgerückt werden, wenn sie brauchbar sein sollte.
Natalie wandte sich um, und zuerst sah sie erschrocken aus. Dann wurde ihr Gesicht sehr nachdenklich. »Ian«, sagte sie. »Wir müssen Sie scannen. Es ist wichtig. Kommen Sie mit?«
»Darum bin ich hier.« Ihre Selbstbeherrschung beeindruckte ihn. Sie war immer eine viel kompliziertere Persönlichkeit gewesen, und klüger. Wenig überraschend, dass sie notfalls auch direkt sein konnte. Das war bewundernswert, doch er fühlte sich dadurch einsam.
»Sie haben Recht.« Sie reagierte auf seine Einsamkeit, sie nahm seinen Ratschlag an und bezog ihn ein. »Es war dumm von mir, aber damals habe ich es für eine gute Idee gehalten.« Sie nahm einen Pulli aus ihrer Reisetasche und zog ihn über. »Haben Sie welche von diesen Leuten hier gesehen?«
»Aber ja. Die, deren Sohn getötet wurde. Sie hat eine Leitung nach draußen. Sie wartet ihren Moment ab.«
»Die anderen werden am Ende zu Guskow stehen«, sagte Natalie und wartete auf seine Bestätigung.
»Sogar Ihr Vater«, sagte er. »Ich muss jetzt fort. Ich bin schon zu weit gegangen.«
Ihr rechter Mundwinkel sank vor Trübsal herab. »Von allen Menschen auf der Welt war er der Eine, der an das Rationale glaubte, und jetzt sitzt er wie wir alle hier fest, vom Sog ihres Lebens mitgerissen, passt seine Realität den Tatsachen an und tut alles nach Vorschrift.« Sie klopfte sich an die Stirn. »Und Sie auch. Und ich. Keine verdammte Ausflucht, und wenn man mit offenen Augen dabei zusieht.«
»Noch ist es nicht zu Ende«, erwiderte er.
»Aber bald.« Sie ging zur Tür und öffnete sie ihm, indem sie die Hand auf die Sensorfläche legte. Als er an ihr vorbeiging, fragte sie: »Wird es noch schlimmer?«
»Nicht sehr«, log Ian. Er wusste nicht, wie er beschreiben sollte, wie es wurde. Er wusste auch nicht, was es bedeutete, sondern nur, was es ihn verstehen ließ: Er spielte keine Rolle.
Sie berührte ihn am Arm, als sie den Korridor betraten. »Haben Sie je … etwas mitgenommen, durch den Raum?«
»Was, etwas getragen? Sie meinen, wenn ich …«
»Ja.«
Ian nickte. »Einmal.« Er blickte ihr ins Gesicht und achtete darauf, dass sie nicht sah, was er getan hatte. »Gehörte zu meiner Revanche.«
»Revanche!«, wiederholte sie und lachte auf, zynisch und von sich enttäuscht. »Läuft denn alles darauf hinaus?«
»Das müssen Sie mir erklären, meine Liebe«, entgegnete Ian. »Was gibt es denn noch?«
»Vergebung«, antwortete sie, doch in ihrem Herzen empfand sie keine. Dans Tod war ihr so nahe, als wäre er gerade eben erst geschehen.
Ians stoppelbärtiges Kinn verhärtete sich. »Nicht von mir.«
Natalie nickte und winkte ihm, ihr zu folgen. Entweder man hatte Vergebung in sich, oder nicht. Vergeben bedeutete loszulassen, und sie und er hatten sehr
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