Mappa Mundi
dich auf die Idee, dass sie es nicht einfach von draußen hereinpumpen?« Sie bedachte ihn mit einem flüchtigen Grinsen; dann veränderte sich der Ausdruck ihres Gesichts – angespannt beobachtete sie ihn, als vollführte er einen Zaubertrick.
»Was ist?«
»Diese Frau«, fragte sie, »ist das Mary? Die Frau mit dem lockigen roten Haar?«
Er nickte. »Wieso?«
Gerade noch ein dahinzuckender Feuerblitz, war sie plötzlich ein kleines, stilles Geschöpf. Mit der Hand hielt sie sich am Schreibtisch fest. Ihr Gesicht war wie der weite, freie Himmel.
»Sie hat Dan ermordet.« Ihr Blick wurde härter und unnachgiebiger. Jude begriff zögernd, was er gehört hatte. Dann nickte er.
»Hör mir gut zu, Jude.« Natalie beugte sich vor und fasste ihn bei den Händen. »Es ist ein großes Risiko, aber wenn wir hier rauskommen, dann unternimm nichts, was du vielleicht bereust.«
»Und was wird aus dir?«
»Ich gehe zur Apotheke und hole dir etwas.« Sie lächelte, und einen Augenblick lang konnte er nicht anders und grinste zurück.
Doch die Medikamente, die sie hatten, richteten gegen Deliverance nicht sonderlich viel aus, und eine weitere Stunde später fühlte Jude sich so krank wie nie zuvor im Leben. Er nieste und hustete so stark, dass ihm die Äderchen in der Kehle und in der Nase platzten; in den Pausen lag er reglos am Boden, während ringsum die Wortgefechte und die Furcht hochkochten und schließlich Teil seines Fiebers wurden.
Er hörte Guskow schreien, ihr Material erlaube lediglich die rechtzeitige Herstellung einer einzigen Dosis. Calum Armstrong brüllte rau auf, als er gewahr wurde, dass Natalie ihr System wieder gestartet hatte, und sie erwiderte sanft, es sei nur zu ihrem Besten – und habe er nicht immer gewollt, dass es ihr besser ginge? Kropotkin und die anderen zerrissen das System der geistigen Freiheit in der Luft – es sei niemals effizient geplant worden. Natalie sprach über ein Programm, das sie geschrieben hatte und das die Furcht verwalten würde, sodass hasserfüllte, gewalttätige Reaktionen eingedämmt wurden.
All das klang ihm sehr nach Leuten, die genau wussten, was falsch gelaufen war, aber immer erst, nachdem das Kind bereits in den Brunnen gefallen war. Wenn er nicht gerade würgte oder Schleim in Papiertaschentücher spuckte oder beobachtete, wie immer größere rote Punkte auf dem Papierknäuel erschienen, den er sich vors Gesicht hielt, um die Ausbreitung der Infektion wenigstens ein bisschen zu verlangsamen, fühlte Jude sich von einer seltsamen Ruhe erfüllt. Vor Kälte schmerzten ihm die Knochen. Er hoffte, dass er noch genügend Kraft hätte, nach draußen zu gehen, wenn es so weit war.
Er fragte sich, ob Mappa Mundi wirklich die Welt verändern könnte. Vor einigen Wochen hätte er noch gesagt, den Lauf der Welt solle man am besten dem Schicksal überlassen, nicht Menschen wie Mary. Doch wenn er genauer darüber nachdachte, wusste er nicht zu sagen, wer in der Tiefe seines Herzens anders gewesen wäre als Mary: selbstsüchtig, hoffnungsvoll, von Furcht getrieben.
Natalies Vater schluckte gerade zwei Kapseln, als sie die Apotheke betrat.
»Was tust du da?«
»Nichts, ich habe Kopfschmerzen.«
Er war ein alter Mann, das sah sie erst jetzt, denn ein Teil von ihm hatte kürzlich aufgegeben. Er hatte sie im Stich gelassen.
»Du nimmst zu viel davon.«
»Ich nehme es schon seit Jahren.« Er steckte den Rest der Packung in die Tasche und nieste. »Sieht ganz so aus, als hätte dein Freund erreicht, wozu er hier ist.«
»Wir kommen alle raus«, entgegnete Natalie bestimmt. Sie nahm ihn beim Arm. »Einschließlich dir.«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. Er schien auf dem Fleck festgewachsen zu sein. »Wenn ihr auf diese Weise geht. Ich will nicht raus. Was ist denn da draußen? Es geht nur immer weiter.«
»Dad, du hast noch viele Jahre.« Doch sie sah nun seine Kopfschmerzen, die Qual eines Mannes, der, in einer Vernunftwelt gefangen, seit zwanzig Jahren mit großer Zielstrebigkeit das gleiche Ziel verfolgte. Die alten NervePath-Systeme in seinem Kopf waren eine Ansammlung unbrauchbarer Wracks, Schiffen ähnlich, die am Ufer lagen und vor sich hinrosteten. Ihre Fehlfunktion hatte ein Einfrieren der Gedanken verursacht; hinzu kamen Phantomschmerzen. Ein Nervenschaden, aber nicht die tödliche Krankheit, die sie befürchtet hatte, trug die Schuld. Er musste einiges ausprobiert haben, als er noch am Krankenhaus arbeitete; er hatte versucht, ein Heilmittel zu
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