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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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als er sie beinahe küsste und sich dann abwandte.
    »Wo ist der Eingang?«
     
    Natalie hielt es für ratsam nachzusehen, ob ihr Vater noch mehr riesige Dosen Kodein genommen hatte. Es war am Abend des Tages, nachdem sie alles erledigt hatte, was an »Bevorzugt« noch getan werden musste. Den Tag war sie die neueste Fassung des gesamten Mappa-Systems durchgegangen, hatte nach Fehlern gesucht und sie beseitigt. Ihr Verstand fühlte sich gegrillt, ihr Körper jedoch weigerte sich, müde zu werden. In den letzten Tagen hatte er lediglich nach Essen verlangt, nach Wasser und alle vier Stunden nach einer halben Stunde meditativer Untätigkeit. Dieser Arbeitsplan war nur schwer durchzuhalten. Mit einem Rest ihres animalischen Ichs, den die Selfware übersehen haben musste, als sie Natalies Kapazitäten generalüberholte, sehnte sie sich nach einer ganzen Nacht tiefer und traumloser Selbstvergessenheit.
    Eingestandenermaßen hatte sie sich bislang ihre Arbeit vorgeschützt, und nun, nach ihrer Vollendung, konnte sie sich keiner anderen Herausforderung mehr stellen als der Tatsache, dass sie und ihr Vater versagt hatten, eine brauchbare Beziehung aufzubauen – diesem Umstand und dem unbefriedigenden, angespannten Verhältnis zu Khan, Kropotkin und den anderen, die alle einander nicht mehr sehen konnten, die ihre Arbeit hassten, ihr Leben und sich selbst. Überall in der Anlage stank es nach Verzweiflung.
    In der Apotheke zeigte der Zähler am Spender an, dass Calum Armstrong tatsächlich weitere Tabletten der gleichen Sorte entnommen hatte. Sie war schon wieder auf dem Weg hinaus und überlegte, wie sie ihn am besten darauf ansprach, als ihr am Behälter mit der MUV etwas auffiel: Er war bewegt worden.
    Bei näherer Betrachtung war er nicht nur bewegt worden, auch die Versiegelung war gebrochen. Natalie zog den Behälter aus dem Regal, stellte ihn auf den Fußboden und öffnete die Schnappverschlüsse. Zwei leere Vertiefungen in der Polsterung aus hochdichtem Schaumstoff verrieten, dass zwei Dosen entnommen worden waren; die anderen Ampullen lagen noch an Ort und Stelle, doch die roten Blinklichter am Verschluss zeigten, dass sie ausnahmslos geöffnet und entleert worden waren. Die MUV war verschwunden.
    Wie ein kalter Schauder überkam Natalie die Überzeugung, dass es nur ein Szenario gab, in dem diese Tatsache Sinn ergab. Sie schloss den Behälter und ging zurück zum Apothekencomputer, wo sie sich mit Hilfe ihrer Passwörter so hoch in die Befehlshierarchie einloggte, wie es nur ging. Allzu hoch war es nicht, erlaubte ihr aber, die vollständigen Messprotokolle der externen und internen Filtersysteme der Anlage abzurufen.
    »Na los, mach schon«, murmelte sie und schlug die flache Hand gegen das Monitorgehäuse.
    Nach einer Verzögerung, die länger dauerte als angemessen, erschien die Übersicht über die Gebäudesysteme auf dem Bildschirm. Sämtliche Messwerte bewegten sich innerhalb des Üblichen, was Mikroben und Gase anging. Falls jemand ins Computersystem eingedrungen war und die Warnsysteme oder Filtersensoren abgeschaltet hatte, dann so gut, dass sie nicht sagen konnte, ob dieser Bildschirm eine Täuschung wiedergab. Doch ob eine Verseuchung sich nun zeigte oder nicht, sie wusste, dass es nicht dazu kommen würde.
    Sie berief eine Generalversammlung ein.
    Einer nach dem anderen kamen sie in den Aufenthaltsraum, abgekämpfte Gestalten in zerknitterter, zu lange getragener Kleidung. Ihr Vater steckte in einem Schutzanzug; nur der schwere Helm fehlte. Der Einzige, den eine Aura von in jeder Hinsicht ordentlicher Sauberkeit umgab, war Isidore Goldfarb.
    Natalie saß am Kopf eines der Tische, den Behälter hatte sie zwischen ihren Füßen versteckt. Nachdem Guskow durch sein Erscheinen die Versammlung beschlussfähig gemacht hatte und die müden Begrüßungen und anderen Zwischenbemerkungen ausgetauscht waren, hob Natalie den Behälter vor sich auf den Tisch und musterte die anderen.
    Die meisten blickten den Behälter mit leeren Gesichtern an. Zu Natalies Erstaunen war es nicht Desanto, sondern Khan, die sofort begriff, was bevorstand. Über ihre Fassade glatter Selbstsicherheit liefen links, auf der Linie des Auges und der Wange, winzige Haarrisse. Ohne etwas dagegen tun zu können, führte sie sich den Ablauf ihrer Sabotage noch einmal vor Augen. Als sie von dem Koffer zu Natalie aufblickte, hatte sie ihre Fassung wiedererlangt. Es bedurfte Kropotkins, die anderen auf ihren intensiven Blickaustausch

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