Mappa Mundi
hinzuweisen.
»Was geht hier vor?«, verlangte Guskow zu erfahren.
Natalie wartete, doch Alicia weigerte sich zu sprechen.
»Doktor Khan hat uns verkauft. Geld stinkt nicht«, erklärte Natalie. Sie ließ die Schnappschlösser springen und öffnete den Koffer, damit jeder es sehen konnte.
»Aber wir haben keine biochemischen Gefahrstoffe in der Anlage«, meinte Goldfarb im Brustton der Überzeugung und mit gemessener, gelassener Stimme. »Nur das NervePath.«
Kropotkin und Guskow kommentierten seine Arglosigkeit mit keinem Wort. Calum Armstrong starrte auf die Lampen. Lucy Desanto reagierte als Erste. Sie fuhr zu Khan herum.
»Warum haben Sie das getan?«
»Ärgern Sie sich, dass ich Ihnen zuvorgekommen bin?«, versetzte Khan. Sie saß mit hochgezogenen Schultern und vorgerecktem Kinn da, doch Natalie wusste, dass sie Angst hatte. Und dazu hatte sie auch allen Grund.
Desanto war wie gelähmt. Sie blickte in die Runde, ob alle anderen einer Meinung mit ihr waren. »Also gut.« Sie hob die Hände. »Ich habe nie an Ihren Plan geglaubt, Michail, und ja, ich habe Nachrichten nach draußen geschickt, um die Regierung auf dem Laufenden zu halten. Was Sie vorhaben, ist grundverkehrt. Aber …«, eher verletzt als wütend wandte sie sich wieder an Khan und wies auf den Kasten, »was soll das?«
»Ich habe zwei Söhne«, erwiderte Khan in dem von der eigenen Unanfechtbarkeit überzeugten Tonfall, den sie stets an den Tag legte, wenn sie über ihre Arbeit referierte. »Ich bin verheiratet. Meine Eltern leben noch.« Mit ihren dunklen Augen funkelte sie jeden an – sie alle arbeiteten unter der gleichen Drohung.
»Vergessen Sie die fünfzig Millionen Dollar nicht«, sagte Natalie gespielt fröhlich. »Und das schöne Haus.«
Khan verzog die Oberlippe und fletschte die Zähne. »Du Monster!«, fauchte sie.
Guskow war zornentbrannt und griff über den schmalen Tisch nach Khan, doch sie wich vor seiner Hand zurück. Er erhob sich zu seiner imposanten Größe und starrte auf sie hinunter, bis sie körperlich zu schrumpfen schien; dennoch leistete sie ihm Widerstand, wenn auch mit verminderter Selbstgefälligkeit.
»Desanto hat Recht«, wisperte sie. »Sie liegen falsch. Die Bobby-X-Methodik muss geheim gehalten werden. Und es steht Einzelpersonen nicht zu, über das Schicksal aller zu entscheiden.«
»Wem dann?«, fragte er leise. »Ihnen?« Er blickte auf den Koffer. »Zwei fehlen. Ich nehme an, eine Dosis haben Sie bereits genommen. Wo ist die andere?«
Khan machte den Mund nicht mehr auf. Sie würde nichts mehr sagen. Während sie warteten, blickte jeder Natalie an, ob sie vielleicht die Antwort weissagen könne – darauf hofften sie alle. Sie alle standen unter Schock. Ihre Desorientierung und das schleichende Entsetzen, das sie befiel, während sie sich mit der Situation abfanden, empfand Natalie als über alle Maßen quälend. Dazu kamen die vergeblichen Hoffnungen auf eine Rettungschance, die ihr Schwindel verursachten – Natalie schob sie beiseite und schüttelte den Kopf. Und in dem einsetzenden Schweigen hörte plötzlich jeder das Geräusch der Aufzugtüren, durch die sie alle nacheinander von oben die Anlage betreten hatten.
Natalie wusste, wer zu ihnen kam. Bevor jemand etwas sagen konnte, sprang sie auf und rannte los. Sie bog um eine Windung des Korridors nach der anderen, glitt dabei immer wieder auf dem Teppichboden aus und musste sich mit einer Hand an der Wand abfangen. Als sie die letzte Ecke hinter sich hatte, sah sie ihn auf sich zukommen, und ihr Herz machte einen Satz aus Hoffnung und der reinen Freude, ihn wiederzusehen. Sie umarmte ihn und drückte ihn fest an sich.
Jude reagierte viel langsamer, und einen Augenblick lang wandte er das Gesicht von ihr ab, als wäre es ihm lieber gewesen, sie hätten sich nicht berührt. Doch dann schien er sich in sein Schicksal zu ergeben und erwiderte seufzend ihre Umarmung.
Natalie blickte ihm ins Gesicht und schüttelte leicht den Kopf.
Eine Sekunde lang dachte sie, dass man vom Abschluss des Projekts erfahren hatte und bestrebt war nachzuprüfen, ob es stimmte. Dann erkannte sie, dass es anders war, und sie begriff.
25
In unmissverständlichen Worten legte Jude ihnen das Angebot der Regierung dar. Er spürte bereits die Symptome, mit denen die Wirkung von Deliverance bei ihm einsetzte: Watte im Kopf, Rückenschmerzen, Temperaturschwankungen zwischen Schüttelfrost und Fieber, aber er sah so gut es ging darüber hinweg.
»Sämtliche
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