Mappa Mundi
meine Jacke versaut haben, ist das ja wohl das Mindeste.«
Er grinste. »Denke ich auch.« Wie seltsam, dass sie es so ernst nahm, aber er war erleichtert.
Sie setzten sich wieder in Bewegung und gelangten durch das überdachte, vermoderte Kirchhofstor auf den Weg. Einige Meter weiter standen sie auf einer breiten, gut beleuchteten Straße voller Leute, die in beide Richtungen gingen, mit Schirmen voller glänzender Regentropfen und raschelnden Regenmänteln.
Jude begann zu reden, weil es ihm beim Gehen leichter fiel; er konnte den Blickkontakt vermeiden, durch den ihm sonst vielleicht Zweifel an seiner geistigen Gesundheit gekommen wären.
»Okay. Sie haben Recht. Kurz bevor ich hierher kam, hatte ich diesen Traum. Ich nehme an, dass es ein Traum war. Jemand kam und …«, aus einem Grund, den er nicht verstand, ließ er den Kuss weg, »und als er fort war, wachte ich auf, und ein Haufen Papiere lag auf dem Bett.«
»Papiere?« Sie hob erwartungsvoll den Blick. »Wirklich? Was stand drin?«
»Weiß ich nicht.« Es klang so albern.
»Wirklich nicht? Sie haben sie nicht durchgesehen?«
»Eigentlich müssten Sie mir jetzt doch in zynischem Ton erklären, dass feste Gegenstände nicht einfach aus der Luft erscheinen. Sie sollten mir versichern, dass ich halluziniert habe.«
»Ha!« Sie grinste. »Man soll immer das Unerwartete versuchen. Leider haben Sie aber wahrscheinlich wirklich halluziniert, auch wenn ich immer gehofft habe, dass eines Tages ein Patient zu mir kommt, bei dem das nicht so ist – ich meine, der so etwas wirklich erlebt hat. Haben Sie die Papiere denn noch?«
Jude blieb stehen. Sie hatten einen größeren Platz erreicht und standen im Licht aus dem Schaufenster eines Reisebüros, in dem verbilligte Wintersonnentrips nach Florida angeboten wurden. Er hob den Koffer. »Wollen Sie sie sehen?«
Natalie blickte ihm in die Augen. »Wenn Sie meine berufliche Meinung hören wollen: Sie sind ein schrecklicher Lügner. Ich bin mit einigen der besten Lügner im Geschäft befreundet, deshalb kenne ich die Tricks, aber Sie, Sie könnten sich nicht einmal an einem jugendfreien Abend in die Disko reinschwindeln. Stellen wir also etwas klar, bevor wir weitermachen. Sie versuchen mich nicht anzulügen, und ich werde Sie nicht anschwindeln. Die Geschichte mit den Papieren nehme ich Ihnen ab. Es wäre besser, wenn Sie sie mir zeigen würden. Aber das hier«, sie zog die elende Disk aus ihrer Innentasche und ließ sie vor ihm aufblitzen, »das ist wirklich schlimm. Und das wollte ich Ihnen erst nicht glauben.« Sie steckte die Disk sorgfältig wieder ein und führte Jude in eine schmalere Straße, wo farbige Lampen hingen und Restaurants sich mit kleinen, exklusiven Boutiquen abwechselten, die dem Nieselregen Pelzmäntel oder Schuhe im Schaufenster präsentierten.
Natalie nahm seinen Arm. Sie redete so leise, wie sie konnte, und er lauschte aufmerksam.
»Also, wo fangen wir an? Eins vorweg: Die Datei ist komplett in Mappacode geschrieben, einer eigens entwickelten Programmiersprache, für die man eine Lizenz benötigt und die nur äußerst wenigen Programmierern überhaupt bekannt ist. Natürlich ist es trotzdem möglich, dass jemand nicht dichtgehalten oder sie geknackt hat – aber wenn, muss er trotzdem die richtigen Compiler gehabt haben, und die gibt es nur auf bestimmten militärischen Rechnern, die nie mit einem Netzwerk verbunden sind. Wenn also jemand etwas verraten hat, war das gar nicht einfach.«
Sie bogen um eine Ecke und mussten eine kleine Menschenmenge umgehen, die sich vor einem Straßenakrobaten versammelt hatte, einem alten Mann, der Feuer schluckte. Jude nahm es wahr, ohne dass es ihn weiter berührte. Zu jeder anderen Zeit wäre er entzückt über eine so ungewöhnliche Begegnung gewesen, doch im Moment war es nur Kulisse für ihn.
»Zweitens. Der Code ist schlecht. Wer immer ihn geschrieben hat, versteht nicht viel davon. Ich halte das Programm für Flickwerk – man hat Teile anderer Programme zusammenkopiert und bearbeitet. Da bin ich mir sicher.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil ich ein paar Abschnitte darin gefunden habe, die von mir stammen. Verstehen Sie, es gibt verschiedene Fachbereiche bei uns. Einige Leute bearbeiten die elektrochemischen oder physiologischen Aspekte, einige die nicht physisch fassbaren – niemand kann auf allen Gebieten Experte sein. Ich schreibe an der memetischen Ebene, der Ebene der Konzepte. Und an der Mustererkennung …« Sie verstummte.
»Die
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