Mappa Mundi
und hob seinen Koffer auf, der in die Nesseln gefallen war. »Suchen Sie den?« Sie glaubte, dass er lächelte; dann hörte sie, dass er leise lachte. Nach einer Sekunde fiel sie ein und reichte sie ihm den Koffer. »Es heißt, euch Yanks ist jeder Vorwand recht.«
»Ertappt«, gab er zu. »Aber jetzt im Ernst. Ich glaube, er kam aus Ihrer Klinik.«
»Ja, ganz sicher haben Sie Recht. Schließlich ist das eine ernste Sache. Nationale Sicherheit. Topsecret.« Noch während sie sprach, kam sie sich albern vor. Sie wusste, dass sie die Angelegenheit ernster nehmen sollte, nur gelang es ihr einfach nicht.
»So ist es. Ja, so ist es.« Er beruhigte sich nun, und sie ebenfalls. Natalie nahm einige tiefe Atemzüge, aber nicht wegen der reinigenden Wirkung.
»Ach je, Ihre Jacke«, sagte er und machte halbherzig eine bürstende Bewegung, ohne sie zu berühren.
»Schon gut.« Sie hob die Hand. »Keine echte Wolle. Schadet ihr nichts. Sie braucht nur zu trocknen.« Die Bäume tröpfelten nun stärker. Sie hörten, wie der Regen heftig ins Blätterdach prasselte. Es war, als wären sie in einem Zelt. »Ich glaube, es ist in dieser Richtung.« Sie wies auf den Kopfstein weg.
Jude ließ ihr den Vortritt. Obwohl er sich einredete, von ihr den Weg gezeigt bekommen zu wollen – denn offensichtlich trieb sie sich viel in den finsteren Ecken der hiesigen Friedhöfe herum –, kannte er gleichzeitig den wahren Grund nur zu gut: weil sie ihn unerklärlicherweise geküsst hatte, als wäre er der letzte Mann auf Erden – und weil er darauf wartete, dass sie es wiederholte.
»Okay.« Sein Herz hämmerte. Und dieses Bravourstück an der Mauer – war es wirklich nötig gewesen? Selbstverständlich. Sie waren ihren Beschatter losgeworden, oder nicht?
Jude lief der Regen das Gesicht herunter. Sie standen in der Nähe des Tors zum Kirchhof unter den scharf umrissenen schwarz-weißen Sprenkeln der Sicherheitslichter. In diesem verdammten Land roch einfach alles nach Schlamm und Wasser. Er schaute Natalie an. Sie erwiderte geduldig seinen Blick, das Gesicht erhoben. Puppenblass wirkte es in dem Licht; zwei weiße Punkte leuchteten in der Iris ihrer Augen. Ihre linke Mundhälfte war noch immer zu einem Lächeln verzogen, die rechte schief; sie hätte ihn gern gemocht, glaubte aber, er treibe ein Spiel mit ihr.
Er fragte: »Ist Ihnen je etwas passiert, das völlig unmöglich war?«
Sie presste die Lippen zusammen, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen.
»Wie wär’s damit: einen Spion kennen lernen und hinter eine Friedhofsmauer geworfen werden?« Sie hustete und lachte heiser über ihren eigenen Sarkasmus.
Jude begriff, dass er sie gequetscht haben musste. Er fühlte sich wie ein Idiot. Hoffentlich hatte er ihr nicht wehgetan. Er schüttelte den Kopf.
»Wie …« Aber wenn man so etwas nicht hier und jetzt zu einer Psychiaterin sagen konnte, wann dann? »Wie wenn man einen Traum hat, von dem ein Teil wahr wird. Ich meine, wie wenn man von einem Gegenstand träumt, den man noch nie gesehen hat, aber dann wacht man auf, und er ist immer noch da.«
Ihre linke Braue schoss erstaunt hoch, die rechte senkte sich misstrauisch, und er musste grinsen.
»Nein. So etwas meinte ich nicht.« Sie fühlte sich befangen und zog geübt ein ausdrucksloses Gesicht.
»Aber etwas anderes? Oder sind Sie während Ihrer Arbeit darauf gestoßen?« Er wollte nicht so klingen, als sei er verrückt oder flehe sie an, doch beides war in diesem Moment der Fall. Der Regen klatschte ihm auf den Kopf. Wasser rann seinen Nacken hinunter und ließ ihn vor Kälte schaudern.
Sie dachte angestrengt nach. »Nein, nichts, bei dem man nicht sagen könnte, dass einem nur die Einbildung einen Streich gespielt hat. Nichts Laborgetestetes. Aber ich will Ihnen etwas sagen. Ich habe eine Menge Material über solche paranormalen Ereignisse …«
Jude verspritzte Wasser, als er den Kopf schüttelte. »Das wird in Ihren Ohren viel zu dumm klingen. Sie sind Wissenschaftlerin und wissen viel mehr als ich. Paranormal. Himmel. Genau darüber möchte ich gar nichts wissen. Als wäre der Rest nicht schon schlimm genug.«
»Sie glauben nicht daran?« Sie zuckte mit den Achseln und fuhr sich rasch mit den Fingern durch ihr kurzes Haar. Ihr Lidschatten war durch die Nässe zerlaufen und bildete dunkle Halbkreise unter ihren Augen, die sie zugleich verwundbar und wie ein Vamp erscheinen ließen. »Na los. Ich verspreche Ihnen, nichts davon weiterzuerzählen. Nachdem Sie mir schon
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