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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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konvulsivisch: ein krampfhaftes Beben, das ihren ganzen Körper durchlief. Glasig starrten ihre graugrünen Augen ins Leere, ihr Mund stand offen, ihr Gesicht wirkte ausdruckslos. Es war, als hätte sie ihren Körper verlassen und wäre ganz woanders – als zuckte sie vor der physischen Welt als Ganzem zurück. Nur ihr Finger blieb unter bewusster Kontrolle und verfolgte weiter die eigenartigen Linien; ein Sirenengesang in Gestalt einer Zeichnung, die sie in ihren Bann schlug.
    Natalie zu betrachten weckte eine primitive Furcht in Judes Innerem. Er bangte nicht nur um sie, sondern auch um sich selbst, denn was sollte er tun, wenn sie zusammenbrach?
    Jude beugte sich über den Tisch, dass die Kerzen beiseite flogen, und packte sie so fest bei den Oberarmen, wie er konnte. Er versuchte, sie mit Gewalt ruhig zu halten, und brüllte ihren Namen. »Bleiben Sie bei mir! Wachen Sie auf! Natalie!«
    Dann – beinah so schnell wie sie weggetreten war – blickte sie ihn wieder mit dem Gesicht an, das eine Sekunde zuvor noch leer gewesen war. Ihre rechte Mundhälfte zeigte ein bebendes, unsicheres Lächeln. »Schon gut«, sagte sie leise. »Tut mir Leid. Alles okay.«
    »Schön.« Dann schüttelte er den Kopf. »Was ist mit Ihnen? Was war das?«
    »Ich war früher verrückt«, sagte sie zu seiner Überraschung. Mit einem forschen Schulterzucken schüttelte sie seine Hände ab und wich zurück. »Vor Jahren. Diese Zeichnung hat mich daran erinnert. Das ist alles. Machen Sie sich keine Sorgen. Es geht mir gut.« Sie zog sich bis an die Spüle zurück, kehrte ihm den Rücken zu, stützte sich ab und blickte aus dem Fenster auf die Lichter des Hotels hinter der Gartenmauer.
    Jude setzte sich wieder und sah, dass das Foto Guskows zum großen Teil mit Wachsspritzern bedeckt war. Die meisten anderen Kerzen lagen erloschen in Pfützen aus Wachs, die langsam erstarrten, auf dem Boden. Die Kante einer Seite hatte Feuer gefangen, doch das imprägnierte Papier hatte die Flamme rasch erlöschen lassen. Drei Kerzen brannten noch immer. Die unruhige Luft rief ein leichtes Blaken der Flammen hervor, und Schatten huschten durchs Zimmer.
    Ihn schauderte, und er begriff, dass ihn nicht nur aus Angst fror, sondern auch, weil er durchnässt war. Diese verdammte Akte. Wenn er sie nur verbrennen könnte. Er fragte sich, ob es ratsam sei. Die Küche hatte einen altmodischen Kamin, der ziemlich stabil wirkte. Wenn er die Papiere darin aufschichtete, wären sie binnen Minuten verbrannt. Die Asche konnte er im Garten verstreuen, oder was immer hinter den dunklen Fenstern lag, und die CIA-Abzeichen konnte man, falls sie das Feuer überstanden, aussieben und per Post in irgendein Drittweltland verschicken. Wäre es sein Haus gewesen, hätte er schon angefangen. Er starrte auf die Schrift. Log Natalie etwa doch? Sie hatte gesagt, sie sei verrückt gewesen.
    Wenn ja, hatte sich soeben seine gesamte Reise als Verschwendung erwiesen.
    Er dachte daran, wie sie ihn unter den Bäumen geküsst hatte, dachte an ihre kühlen Hände auf seinem Gesicht und die wilde Gier, die nicht ihm persönlich galt, sondern etwas weit weniger Gewöhnlichem.
    Alles war verrückt.
    Natalie suchte in den Schränken. Jude beobachtete, wie sie zwei Schnapsgläser und eine kleine Flasche Whisky hervorholte und einschenkte.
    »Möchten Sie einen?«
    »Ja.« Er durchquerte den Raum, vorsichtig, um nicht ins Wachs zu treten. Neben Natalie lehnte er sich an die Arbeitsplatte, und zusammen blickten sie auf die Seiten, die verstreut in der Lichtpfütze lagen.
    Jude fragte sich, wie verrückt sie gewesen war, und wie sie es so beiläufig erwähnen konnte, als erzählte sie ihm, sie sei früher Cheerleader gewesen oder habe als Verkäuferin gearbeitet. Sie glaubte offenbar, er könnte sie nun mit anderen Augen sehen. Das hatte er zwar nicht vor, aber vielleicht tat er es schon. Jude leerte sein Glas, und das Brennen des Alkohols im Magen war ihm eine echte Erleichterung.
    »Es ist spät«, sagte Natalie. »Sie müssen müde sein.«
    »Ich glaube nicht, dass ich jetzt schlafen könnte.« Er schenkte sich nach und hob das Glas zum Mund. Eiskalt war es in diesem Haus, dabei war draußen Sommer. Er war müde. Er war erschöpft.
    »Mein Vater hat nie geschlafen«, sagte Natalie. »Das sagte er immer. Er ging nachts ins Studierzimmer und arbeitete. Ich glaube, er schlief trotzdem, in den Pausen, ohne es zu merken. Seine Augen waren offen, aber es war, als wohnte niemand dahinter. Ich habe mich dann

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