Mappa Mundi
weil er mit den Gedanken ganz woanders war. »Mehr als einen Haufen Indizien und zufällige Gemeinsamkeiten habe ich nicht. Er ist amerikanischer Akademiker: Psychologe, Biologe, universell gebildet – ein Überläufer. Kam in den Achtzigerjahren über Deutschland in die USA … komplizierter Mann. Ich bin ihm einmal begegnet.« Doch die Erinnerung musste sehr unangenehm sein, denn Jude zog ein Gesicht, als hätte er Gift geschluckt.
Erneut nagten Zögern und Zweifel an seiner Zuversicht. Jude schien in sich zusammenzuschrumpfen. Sie kannte das Gefühl und fragte sich, was ihn wohl mit seiner Jagdbeute verband – es musste etwas Bedeutsames sein.
Natalie blickte auf die verrutschten Aktenstapel. »Und wer sind die anderen?«
»Das weiß ich auch nicht.« Jude schüttelte den Kopf. Aus zusammengekniffenen Augen musterte er die Informationsflut.
»Es kann aber kein Zufall sein«, sagte sie, »dass man es Ihnen zugespielt hat. Das Warum erklärt sich aus den Akten, zum Teil jedenfalls. Es geht um einen Mann, den Sie suchen. Und hier liegen einige seiner Papiere vor Ihnen. Vielleicht finden Sie hier, was Sie die ganze Zeit gebraucht hätten, um ihn verurteilen zu lassen.«
»Ein Geschenk Gottes, meinen Sie?«, entgegnete er sarkastisch.
Sie zuckte mit den Achseln und grinste. »Vielleicht.«
Jude stöberte weiter in den Unterlagen. Krankenakten. Einwanderungspapiere. Meldeformulare. Sozialversicherungsdaten. Natalie war froh, dass nicht sie das Ganze auswerten musste.
»Warten Sie!« Sie riss die Papiere zu sich herum und bekleckerte sie beinahe mit Wachs. Sie fröstelte am ganzen Leib.
Ohne Zweifel befand sich unter den leuchtenden Adlerschwingen eine Fotografie von Michail Guskow.
»Was?« Nun starrte Jude sie an.
Natalie war klar, dass sie eigentlich kein Wort mehr sagen durfte, nur dass sie schon längst in der Tinte saß. Der ganze Abend bedeutete ohnedies einen Bruch des Eides auf das Gesetz über Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit, den sie mit ihrer Unterschrift abgelegt hatte. Das Innenministerium würde ihr eine Dauerkarte fürs Gefängnis ausstellen.
»Das ist Michail Guskow«, sagte sie. »Er … er arbeitet an dem gleichen Projekt wie ich. In Amerika. Ermitteln Sie etwa gegen ihn?«
»Nein.« Jude nahm nicht den Blick von ihr. »Kennen Sie ihn? Wie gut?«
»Nein«, sagte sie und erlangte mit der Ablenkungstaktik Jennifers, des Mädchens vom Sorgentelefon, ein wenig Fassung zurück. »Überhaupt nicht. Ich kenne nur seinen Namen und sein Gesicht. Wir sind wirklich nicht sehr viele.« Plötzlich ängstigten die Akten sie. Sie schob die belastende Seite beiseite – es war die letzte in der Mappe –, und als sie dann wieder darauf blickte, schien es ihr, als würde ihr das Herz bis hinauf in die Kehle springen. Ihr wurde schwindelig.
Da war es. Nach all den Jahren. Direkt vor ihr. Peng. Einfach so. Der Existenzbeweis des Unerklärlichen.
»Was haben Sie?«, verlangte Jude zu erfahren. »Was ist denn?«
Natalie konnte es nicht glauben. Sie zeigte auf die Innenseite des Aktendeckels, und selbst Jennifer hatte nichts mehr in petto, wohinter Natalie sich verstecken konnte.
»Das da«, wisperte sie.
Jude las die gekritzelten Wörter inmitten eines komplizierten Gemäldes aus ineinander verwundenen Bleistiftstrichen, die Gestalten schufen, welche anscheinend jeden Augenblick aus den Seiten springen konnten. »Fällig am 15. Juni 2015.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist heute.«
Benommen und unter einem Schock, der mehr Raum einnahm als das Zimmer, in dem sie saßen, zog Natalie die tief eindrückten Linien des Gekritzels mit dem Finger nach. Die andere Hand hielt sie sich vors Gesicht, ebenso sehr um sich zu vergewissern, dass es noch dort war, als auch, um es dort zu halten.
»Sie verstehen nicht«, sagte sie. Mit den Fingerspitzen ertastete sie die Rillen, folgte ihnen, als kenne sie den Weg schon, und so war es schließlich auch, denn es war ein Bild der Karte.
»Das ist meine Schrift.«
Bis zu diesem Augenblick hatte Jude seine Geschichte über den Aktendeckel selber nicht geglaubt. Mehr als eben eine Geschichte war es nicht gewesen. Selbst wenn er den Ordner in der Hand hielt und seinen außerordentlichen Inhalt las, war er nicht bereit hinzunehmen, auf welche Weise er in seine Hände gelangt war. Natalies Verhalten änderte seine Einstellung.
Sie begann zu zittern – doch nicht der Schauder, den Jude selbst erfahren hatte, überkam sie: Sie zitterte
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