Mappa Mundi
Schlösser tasteten seine Fingerabdrücke ab, indem sie mit grünem Licht weich darüber leckten.
Er blickte Natalie an, und im gelben Licht der Kerzen, die den Sauerstoff zwischen ihnen verzehrten, wirkte sein Gesicht weicher und jünger. Wenn Natalie noch Zweifel an seiner Aufrichtigkeit gehegt hatte, verschwanden sie jetzt. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck. Sie kannte ihn von Patienten, die ansetzten, etwas zu enthüllen, was sie lange verborgen gehalten hatten. Lügnern gelang dieser nie richtig, denn sie beobachteten immer zu genau ihr Gegenüber und konzentrierten sich zu sehr auf ihre zur Schau gestellte Aufrichtigkeit. Jude hingegen hatte sich seiner eigensten Furcht ergeben.
Er starrte auf seine Hände und öffnete den Koffer, schaute hinein und zuckte zusammen. Dann drehte er den Koffer Natalie zu.
Natalie erblickte eine braune Pappmappe, die an den Rändern abgeschabt war und im Koffer lag wie eine Akte, das ein Pendler mit nach Hause nimmt. Ihr war nach Lachen zumute, aber was hatte sie erwartet? Sie hörte, wie er seufzte, weil er das Gleiche dachte.
»Es könnte eine technische Neuerung geben, von der Sie nichts wissen«, begann sie und tat ihre Pflicht, die völlig alltägliche Erscheinung des Aktendeckels mit einer Spekulation aus dem Reich des Bizarren zu erklären.
»Ja«, sagte er, und wie er es sagte, ließ sie erkennen, dass sie nicht fortzufahren brauchte. »Das habe ich schon gehört.« Er grinste sie an, voll Zweifel, und eine Sekunde lang glaubte sie schon, er wolle zugeben, sie angeschwindelt zu haben; stattdessen begann er: »Ich weiß noch immer nicht, wie ich …« Er blickte auf den Aktendeckel und suchte nach den richtigen Worten. »Dieser Ordner … er ist nicht wirklich.«
Er wollte den Pappdeckel berühren, zog aber vorher die Hand zurück.
»Öffnen wir ihn.« Natalie trug den Mut in sich, den Bier verleiht. Sie ignorierte die kalte, durchdringende Nässe ihrer Kleidung und drehte den Koffer herum, sodass sie direkt hineinblickte. Der Aktendeckel war schwer. Natalie brauchte beide Hände, um ihn herauszuheben, und doch fühlte er sich ganz normal an; Pappe, an einigen Stellen glatt gescheuert. Jemand hatte sehr viel damit gearbeitet. Sie schaute sich an, was sonst noch in dem Koffer war, und entdeckte einiges, was sie nicht kannte. Technische Geräte … doch Jude zog ihn rasch zurück, bevor sie mehr sah.
»Lesen Sie«, bat Jude. Er musterte sie eingehend, und sie sah, wie seine Nasenflügel sich vor unbewusstem Abscheu blähten.
Mit fester Hand schlug Natalie den Deckel beiseite und sah darunter einen Stempel ähnlich dem, den Glover auf ihrer Akte gehabt hatte: Streng Geheim. Willkommen im Spionagehimmel. Du hast das große Los gezogen, Loser.
Doch ihre Erleichterung, den Beweis für einen Schwindel zu finden, verschwand, sobald sie den Inhalt sah. Die Papiere waren offizielle Formulare mit aufgedruckten Fotografien und Fingerabdrücken in einer ordentlichen Kästchenreihe. Ohne Ausnahme trugen sie die holografischen Abzeichen der Central Intelligence Agency, die im Kerzenlicht Adler über den Ecken der Seiten tanzen ließen. Das erste Blatt sagte ihr nichts. Sie las die Punkte, die ihr ins Auge sprangen, und musste darum kämpfen, dass ihr in der durchdringenden Kälte der Küche die Stimme nicht versagte.
»Es geht um einen Jungen. Türkische Abstammung, aber jugoslawische Staatsbürgerschaft. Hilel … ich kann den Nachnamen nicht lesen, vielleicht Muhammad. Moslem. Geburtsdatum: 1955, in Sarajewo. Verlässt 1964 Jugoslawien. Mutter nimmt ihn mit in die Türkei zurück, wo sie sich bei ihrer Familie in Igneada am Schwarzen Meer niederlässt. Aufgewecktes Kind. Gute Schulnoten. Eine Vorstrafe wegen Drogenbesitz. Danach – nichts. Er taucht nirgendwo mehr auf.« Natalie blickte auf die Überschriften. »Die Original-Polizeiakte ist angehängt. Türkisch, glaube ich. Was soll das denn?«
Jude schüttelte den Kopf. Er wirkte verwirrt. Natalie schluckte ihren Ärger über sein unschlüssiges Gesicht herunter und wandte sich wieder den Akten zu. Sie durchblätterte maschinegeschriebene Papiere auf türkisch, arabisch und etwas, das aussah wie russisch, aber kein Russisch war. Dann fand sie ein neues Bild, ein neues Deckblatt, das an einen Packen vielfarbiger Seiten geheftet war.
»Pavlo Mykytiuk. Ukrainer. Seine Ausweispapiere sind anscheinend gefälscht. Er wohnte in den Siebzigerjahren in einer Wolgograder Kommune. Ja, ein großer Junge. Wenn man sich nur von
Weitere Kostenlose Bücher