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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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Rüben und Wodka ernährt, sieht man irgendwann aus wie ein Bulle. Was für ein Nacken!« Sie verstummte, sah sich das Foto an und las weiter. »Offenbar hat er sich nach einer Weile überall ziemlich unbeliebt gemacht. Diebstahl oder so was. Jedenfalls wurde er beschuldigt. Dann zog er fort und ging nach … Tula, wo er ein Jahr lang als Eisenbahningenieur arbeitete. Mitglied der Kommunistischen Partei …« Natalie blickte auf und starrte dann zusammen mit Jude wieder auf das Foto.
    Pavlo war jung und blass, und noch immer zeigte sich großer Idealismus in der Haltung seiner Schultern und seines Kinns, das er energisch vorgeschoben hatte; er sah ganz so aus, als könnte er selbst auf sich Acht geben, jawohl. Mit grenzenloser Verachtung blickte er in die Polizeikamera.
    Die Eindringlichkeit, mit der Jude das Foto musterte, trieb Natalie fast Tränen des Mitgefühls in die Augen.
    »Erkennen Sie ihn?«, fragte sie.
    »Nein«, antwortete Jude. Er wagte es, mitten in das Dossier zu greifen, und hob den halben Stoß hoch. Eine alte, abgegriffene Karte rutschte heraus, und Natalie hielt sie dichter an die Kerze, um die verblasste Handschrift darauf lesen zu können.
    »Russisch! Das verstehe ich nicht«, sagte sie ärgerlich.
    Jude nahm ihr die Karte sanft aus den Fingern. »Aber ich.«
    Endlich, dachte Natalie, schaltet er das Hirn hoch. Nun mochte sie ihn wieder. Sie sah zu, wie er las, und genoss sein Zutrauen in seine Fähigkeiten.
    »Das ist eine Registrierung, ein Eintrag, der vorbereitet wurde, um in die Kodeks eingegeben zu werden«, sagte er verwundert und drehte das kleine, wachsbeschichtete Kärtchen immer wieder herum, während er beide Seiten genau absuchte.
    »Kodex?« Für sie bedeutete das Wort staubige Manuskripte und Geheimgesellschaften-Blödsinn.
    »Eine zentrale Datenbank der Kriminalakten bei den Sowjets, von den Russen nach dem Zerfall der UdSSR weitergeführt. Alexei Kurchatow. 1985. Er muss für viele Jahre weg vom Fenster gewesen sein: Diebstahl, Rauschgifthandel, Zuhälterei … die üblichen Anklagen, mit denen die Behörden jeden belasteten, den sie gern von der Straßen haben wollten.« Jude drehte die Karte um. »Ich möchte wissen, wie sie das aus Moskau herausgeschmuggelt haben.« Er schnaubte amüsiert. »Ich möchte wissen, wer das wirklich ist, sollte ich wohl sagen. Kurchatow. Als wäre das ein echter Name!«
    »Ist er es denn nicht?«, fragte Natalie.
    »Kurchatow war im vergangenen Jahrhundert ein berühmter russischer Wissenschaftler. Dieser Bursche hier wird wohl ein anderer sein; es könnte Millionen von Kurchatows geben, aber was denken Sie, wenn Sie hören, was hier steht: keine Geburtsurkunde, kein Führerschein, überhaupt nicht aktenkundig … eine gefälschte Identität, ganz klar.« Er beugte sich über den Tisch und schob einen weiteren Packen zur Seite, dann ergriff er eins der ID-Blätter, die sich fächerförmig ausgebreitet hatten, und hielt es sich unter die Nase. »Scheiße!«
    »Was ist?« Natalie beugte sich vor und versuchte, auf das Blatt zu blicken.
    »Juri Iwanow«, sagte er voll Ehrfurcht. »Was sucht der denn hier?« Jude blickte Natalie an und schüttelte den Kopf. In seinen dunkelbraunen Augen stand höchste Konzentration. In diesem Moment konnte sie so mühelos in seinen Gedanken lesen wie in einem offenen Buch, wie in einem Kind, aber bevor sie noch mehr erkannte, wandte er sich wieder dem Foto zu.
    Natalie blickte das Bild stirnrunzelnd an. Sie sah ein derbes mongolisches Gesicht und von dichten Brauen beschattete Augen, in denen wilde Energie funkelte. Der Mann hatte einen dichten Schnurrbart und langes, schweres Haar von intensivem Blauschwarz. »Wer ist das?«
    Doch Jude blätterte bereits in den übrigen Papieren, fand einen Pass und einen deutschen Personalausweis, eine Arbeitserlaubnis, ein akademisches Empfehlungsschreiben. Er schien sie gar nicht gehört zu haben. Nun bewegte er die Papiere leise, mit präzisen Bewegungen, und im Licht der offenen Flamme sah sein Gesicht so heiter und gelassen aus wie das eines Heiligen. Natalie beobachtete das Blinzeln der langen, dunklen Lider, den tiefen Schatten, den seine gerade, scharfe Nase warf; die präzisen Linien seiner hübschen, halb geöffneten Lippen, die weiße, ebenmäßige amerikanische Zähne entblößten.
    »Iwanow ist der einzige Mensch, dem ich niemals etwas nachweisen konnte«, sagte Jude. Er hob plötzlich den Blick und ertappte sie dabei, wie sie ihn beobachtete, bemerkte es aber nicht,

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