Mappa Mundi
immer gefragt, wohin er gegangen war. Wenn er zurückkehrte, war er nie glücklich – nicht, nachdem sie starb.«
»Sie?«
»Meine Mutter. Charlotte. Sie war Reisejournalistin. Sie starb bei einem Flugzeugabsturz zusammen mit dem Mann, mit dem sie eine Affäre hatte. Irgendwo in der Nähe von Kapstadt. Es stand in allen Zeitungen.«
»Das tut mir Leid.« Jude wusste nicht, was er mit dieser Offenbarung anfangen sollte – ob sie mit der Schrift auf dem Aktenordner in Verbindung stand oder nicht. War Natalie deshalb wahnsinnig geworden? Das konnte doch nicht alles sein. Er trank das zweite Glas leer und sah einen Moment lang einen Mann vor seinem inneren Auge, einen hoch aufgeschossenen Mann mit einer Zigarre zwischen den Lippen, die wie der Ast am Stamm einer alten Kiefer wirkte.
»Ist schon okay«, sagte Natalie. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie das ganze Glas auf einmal herunterschüttete. »Ich wollte auch nicht sagen, dass wir schlafen gehen sollten.« Sie blickte auf und grinste; ein wilder, unbändiger Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn herausforderte. »Ich habe Ihnen etwas zu zeigen.«
Natalie flößte ihm Furcht ein. Das musste er zugeben.
Das Gebäude hatte ein weites Treppenhaus, das in zwei Obergeschosse führte, und sie tasteten sich vorsichtig am Geländer hoch. Jude setzte seine Füße genau dorthin, wo Natalies Füße gewesen waren, und war heilfroh, dass es in der Stadt heutzutage kein dunkles Haus mehr gab. Im obersten Stockwerk sah er drei Zimmer. Natalie öffnete die Tür rechts. Jude sah nichts – als hätte sie eine Tür geöffnet, hinter der sich nichts als Schwärze verbarg.
»Rollladen«, erklärte sie. »Kommen Sie herein, ich mache Licht.«
Es war schwieriger, als er gedacht hätte. Mit den Schuhspitzen prüfte er vorsichtig den Teppich und erschauerte unwillkürlich, als Natalie die Tür mit einem gedämpften Geräusch hinter ihnen schloss. Er hätte überall auf der Welt sein können, ohne zu wissen, wo. Serienmörder, zwanghafte Fotografie und Sammlungen von Körperteilen, toten Tieren oder Schlimmerem gingen ihm durch den Sinn. Am ganzen Körper hatte er Gänsehaut – und nicht nur, weil er in seiner klammen Kleidung fröstelte.
Das Licht war grell, aber nicht blendend. Er starrte in den Raum. Das Zimmer war leer, doch winzige, komplizierte Netze aus Linien wie die auf dem Aktendeckel und ähnlich winzige, präzise Schrift bedeckten die Wände vollkommen – darunter waren sie weiß.
»Willkommen in meinem Albtraum?«, sagte er, wobei er sich um einen scherzhaften Ton bemühte.
»Nein, nein«, entgegnete Natalie. Sie klang plötzlich heiter; vermutlich, weil ihm so unbehaglich war. »Willkommen bei Natalie Armstrong.«
Er blickte sich um. Das Wandstück, das am nächsten war, betrachtete er genauer. Die Linien kreuzten sich niemals. Sie waren mit Ziffern gekennzeichnet, und ihm fiel eine Ähnlichkeit auf. »Ist das eine Wetterkarte?«
»In gewisser Weise.« Sie lächelte, und er wünschte, sie würde ihn in den Scherz einweihen, der sie so belustigte.
»Es sind Isobaren«, sagte sie. »Tiefdruck- und Hochdruckgebiete, Warmwetterfronten, Okklusionen, Sturmfronten – und zwar psychische. Traurigkeit ist Tiefdruck. Liebe ist Hochdruck. Andere Gefühle bilden kompliziertere Figuren. Das Geschriebene und die Zahlen waren damals Darstellungen von allem, was ich kannte.«
»Damals?« Jude trat näher und musterte eine Stelle. Er begriff, weshalb das Licht so hell und gleichmäßig sein musste, denn sonst hätte er nichts lesen können. Die Schrift war winzig klein.
»Als ich siebzehn war. Ich war gerade aus der Anstalt entlassen. Das hier war Teil meiner Therapie, wenn Sie so wollen.«
Jude las. Der winzige Eintrag vor ihm, der mitten in einem Hochdruckgebiet lag, lautete: »Prakriti: Realität von als Materie manifestierter Energie, eine Tasche örtlicher Fugue innerhalb des Tanzes von Shiva.« Jude hatte die vage Vorstellung, dass es mit Hinduismus zusammenhängen konnte.
»Warum ist das in solch einem Zustand?« Er wies auf die Stelle. Natalie brauchte nicht einmal hinzusehen.
»Ich fürchte, ich war insgesamt in diesem Zustand. Nach Mutters Tod ging ich über Bord und fing mich in der Mystik. Der Teil der Wand dort ist ganz meinen Gefühlen und Theorien über die Natur der physischen Wirklichkeit und des Todes gewidmet. Teenagerkram.« Sie grinste wieder, doch diesmal war sie sich ihrer nicht ganz so sicher. Jude gewann den Eindruck, dass sie gern noch mehr gesagt
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