Mara und der Feuerbringer
»Weißt du was, Mara? Das waren die großartigsten, unglaublichsten, schönsten, verrücktesten, gefährlichsten und bewegendsten Minuten meines bisherigen Lebens, und ich zähle hier meinen ersten Kuss und das Ende meiner Schulzeit ausdrücklich dazu!«
Mara, die fand, dass sich der Professor sehr seltsam benahm, fragte vorsichtig: »Geht’s Ihnen denn gut?«
Immer noch leise vor sich hin kichernd rappelte sich der Professor auf, vollführte grinsend eine Kniebeuge und fühlte sich dann spielerisch den Puls. »Oh ja, alles in Ordnung. Mir geht es gut. Um ehrlich zu sein, ging es mir selten besser! Aber viel wichtiger scheint mir die Frage, wie es dir geht? Denn du hast ja anscheinend ziemlich zu kämpfen gehabt, um uns wieder hierher zu holen, was?«
Mara nickte beschämt, denn das war ihr äußerst unangenehm. »Ich … ich hab’s dauernd versucht und es hat nicht geklappt.«
Der Professor breitete grinsend seine Arme aus: »Also, wenn mich nicht alles täuscht, hat es sehr wohl geklappt, oder siehst du hier irgendwo einen Donnergott? Hahaha!«
Aber Mara war nicht nach Lachen zumute. »Ich dachte, ich wüsste jetzt, wie das funktioniert mit diesen Visionen oder was immer das eigentlich ist … Aber meistens kommen sie, ohne dass ich was dafür tun muss, und hören wohl erst auf, wenn … na ja, wenn sie aufhören.«
Der Professor schien einen Moment lang nachzudenken, dann klatschte er tatkräftig in die Hände und sagte: »Also, ich würde vorschlagen, wir akzeptieren jetzt für den Moment, dass dein Talent offensichtlich ein wenig … sagen wir mal ›eigensinnig‹ ist. Oder zumindest, dass du noch nicht genau weißt, welche Knöpfe du drücken musst, damit das passiert, was du gerne hättest.
Wir
müssen uns jetzt nämlich erst einmal um ein paar andere Dinge Gedanken machen und mir scheint, der alte Loki steht ganz oben auf unserer Liste!«
Mit diesen Worten drehte sich Professor Weissinger schwungvoll zu einem der Bücherregale um. Doch im nächsten Moment musste er sich mit beiden Händen am Regal festhalten. Anscheinend ging es ihm doch nicht ganz so gut, wie er eben noch getönt hatte.
Sofort stand Mara neben ihm. »Herr Professor? Was haben Sie denn?«, fragte sie voller Sorge.
Doch der hob schon wieder den Kopf und gab sich alle Mühe, möglichst wach dreinzuschauen. »Alles in Ordnung, wirklich. Bin nur keine achtzehn mehr und nicht mehr so daran gewöhnt, durch die Luft zu fliegen.« Und schon hatte er sich wieder den Büchern zugewandt, zog mit zielsicherem Griff ein paar davon heraus und warf sie ebenso zielsicher hinüber auf den Tisch. »Und ich denke, es ist vor allem endlich an der Zeit, dass wir deine Fragen beantworten, oder was meinst du?«
Wenn Mara so heftig mit dem Kopf genickt hätte, wie sie ganz genau der gleichen Meinung war, hätte der Platz vom Boden bis zur Decke nicht dafür ausgereicht. Also sagte sie nur: »Oh ja, bitte!«
»Nun gut«, sagte der Professor, zückte einen großen Block und begann, sich darauf Notizen zu machen. »Dann wollen wir doch als Allererstes ein bisschen Struktur in die Sache bringen: Wenn wir den sprechenden Zweig mal für einen Moment nicht als eine deiner ›typischen‹ Visionen ansehen wollen, dann wäre die erste in dieser Reihe wohl die Vision von Loki in Gefangenschaft. Richtig?«
Mara nickte und setzte sich auf den Stuhl gegenüber vom Professor an den kleinen Tisch.
Der fuhr fort: »Nun denn, Loki wurde tatsächlich zur Strafe für all seine Missetaten von den Göttern gefangen gesetzt. Deine andere Vision, die Geschichte mit dem Fischernetz, geschah eigentlich kurz davor. Was du hier miterlebt hast, war nichts anderes als die Gefangennahme des Loki! Er wurde von Thor mit seiner eigenen Erfindung, dem Fischernetz, eingefangen, als er …«
»Als er in der Gestalt eines Fisches fliehen wollte!«, rief Mara aus. Natürlich, so ergab es plötzlich einen Sinn!
»Richtig«, brummte der Professor. »In Gestalt eines Lachses, um genau zu sein. Dann hat man ihn an einem uns unbekannten Ort in einer Höhle auf mehrere abgebrochene Steine gefesselt – und zwar mit den Gedärmen seines eigenen Sohnes Narfi. Wenn ich mich nicht täusche, passt das ganz gut auf die Beschreibung, die du mir von den Fesseln gegeben hast, oder?«
Mara fühlte, wie sich ihr Hals zuschnürte. Diese seltsam lebendigen Fesseln waren also … Sie schüttelte sich. Wie grausam und ekelhaft! Sie wollte gar nicht erst wissen, wie die Götter überhaupt an die Gedärme
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