Mara und der Feuerbringer
von Lokis Sohn herangekommen waren.
»Ich deute das als ein Ja«, sagte der Professor und wendete sich wieder seinen Notizen zu. »In der Tat ist das mit den Gedärmen eineäußerst widerliche und brutale Angelegenheit, aber glaube mir, die Details sind noch um einiges dramatischer.«
»Ich will sie
wirklich
gar nicht wissen«, nuschelte Mara gepresst.
Der Professor verstand und fuhr fort: »Den erzürnten Göttern war das aber noch nicht Strafe genug. Darum wurde direkt über Lokis Kopf eine Schlange platziert, deren giftiger Speichel unablässig tropfte und so Lokis Gesicht verätzte.«
Mara stöhnte und versuchte, auch diese Bilder aus ihrem Kopf fernzuhalten.
»Wäre da nicht die Frau mit der Holzschale, die du gesehen hast!«
Sofort war Mara wieder ganz Ohr: Endlich erfuhr sie, wer die Frau mit dem traurigen Gesicht war.
»Ihr Name ist
Sigyn
«, erzählte der Professor weiter. »Und sie machte es sich tatsächlich zur Aufgabe, den Speichel der Schlange in einer Holzschale aufzufangen. So schützte sie ihren Geliebten vor den Verätzungen. Das nenne ich wahre Liebe.« Der Professor seufzte kurz und theatralisch, bevor er weitersprach. »Dummerweise musste
Sigyn
die Holzschale auch ab und an wegziehen, um sie zu leeren. Schon die wenigen Gifttropfen, die Loki dann trafen, genügten, um den Halbgott vor Schmerzen wie von Sinnen brüllen zu lassen. Laut der Sage entstehen so im Übrigen die Erdbeben auf der Welt. Also hoffen wir mal, dass die arme Frau ihre Schale in nächster Zeit nicht allzu oft leeren muss!«
In der Tat erinnerte sich Mara daran, dass die Erde bei jedem von Lokis Schreien gebebt hatte.
»Glauben Sie denn, dass Lokis Frau immer noch bei ihm ist und das Gift auffängt?«, fragte sie.
»Das ist eine schwierige Frage für mich, Mara. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen muss ich natürlich antworten, dass es sich hier um einen Mythos handelt. Demzufolge fängt nirgendwo irgendwer irgendwelches Gift auf. Aber diese Sichtweise bringt unsnatürlich nicht weiter. Außerdem habe ich heute Dinge gesehen, die sich nicht so einfach erklären lassen. Aber wie sagte der griechische Philosoph Sokrates doch so schön: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Daher schlage ich vor, wir machen einfach weiter, als hättest du diese Frage nie gestellt. Einverstanden?«
Was sollte Mara auch sonst sein. Sie nickte also mal wieder und kam sich langsam vor wie ein Wackeldackel. Der Professor wendete sich ihrer nächsten Vision zu. »Du hast erzählt, ein großer schwarzer Vogel hat dich dazu gedrängt, auf das Denkmal zu treten. Und auf einmal hattest du die Vision von einer jungen Frau, die Zettel von einem Balkon geworfen hat. Das Ganze endete sehr plötzlich mit einer Art Metall, das herabsauste, richtig?«
Vielleicht sollte ich bei den Nick-Weltmeisterschaften antreten, dachte Mara und absolvierte schon mal eine Trainingseinheit.
Der Professor blätterte in einem Buch mit dem Titel
Lexikon der germanischen Mythologie
, als er sagte: »Nun, was den schwarzen Vogel angeht, hätte ich nur eine vage Idee …« Er legte das Buch aufgeschlagen zur Seite und fuhr fort: »Was die Vision selbst angeht, liegt die Erklärung allerdings auf der Hand. Das Denkmal, auf das du getreten bist, ist eine Erinnerung an die Studenten Sophie und Hans Scholl. Die beiden haben hier an dieser Uni im Jahr 1943 Flugblätter gegen die Nazis verteilt. Ihren Mut mussten sie mit dem Leben bezahlen. Und zwar auf der Guillotine. Das könnte das Bild mit dem Metall in der Holzkonstruktion erklären. Du hast das Fallbeil gesehen, Mara.«
Mara schluckte. Doch eine Frage brannte ihr immer noch besonders unter den Nägeln: »Was ist denn jetzt eigentlich mit Lokis Frisur?«
Der Professor grinste: »Tja, wie du dir vorstellen kannst, habe ich natürlich viel darüber nachgedacht. Deine Theorie, dass etwas nicht automatisch falsch sein muss, nur weil die Forschung es bisher noch nicht belegen konnte, hat sicher etwas für sich. Aber so darf man alsWissenschaftler natürlich nicht vorgehen, denn sonst könnte man ja alles Mögliche behaupten. Andersherum gesagt: Nur weil etwas noch nicht widerlegt wurde, heißt das noch lange nicht, dass es stimmt.«
Klar, daran hatte Mara ja auch schon gedacht. Trotzdem war sie enttäuscht, denn auf ihre Idee war sie schon ziemlich stolz gewesen. Doch als der Professor weitersprach, wurde Mara der Schönheitsfehler ihrer Theorie immer schmerzhafter deutlich.
»Weißt du, Mara, die Buchhandlungen und das
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