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Marathon

Marathon

Titel: Marathon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Frangenberg
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Irrsinn
mitgemacht, bei dem sich fette Rechtsanwältinnen und
schwitzende Sekretärinnen an technischen Geräten
quälten, Bankangestellte die Oberarme aufpumpten und
Ingenieure vom Waschbrettbauch träumten. Kein
vernünftiger Handwerker würde ein Fitness-Studio
betreten, kein Schreiner Hanteln stemmen und kein Gärtner auf
einem Laufband joggen, glaubte er zu wissen. Die tranken lieber
eine Flasche Bier, am besten schon bei der Arbeit. Das war ein viel
effizienteres Fitnessprogramm. Marathon war was für echte
Handwerker.
    Er hatte seine
Distanzen langsam gesteigert, seine Durchschnittszeit auf zehn
Kilometer deutlich unter eine Stunde gedrückt, bevor er sich
drei Wochen vor seinem ersten Marathonstart an die entscheidende
Zweiunddreißig-Kilometer-Marke herangearbeitet hatte. Wer die
laufend erreicht, ohne danach zusammenzubrechen, ist fit für
die ganze Distanz. Danach hatte er sich drei Wochen Urlaub genommen
und an nichts anderes mehr gedacht als an den Marathon.
    Seine Frau hatte das
schon damals gar nicht komisch gefunden, ihn aber mit blöden
Bemerkungen verschont. Er konnte sich noch genau erinnern, was er
gefühlt hatte, als er sich zum ersten Mal sicher war, die
Distanz zu schaffen: Jetzt beginnt etwas Neues, hatte er gedacht.
Jetzt wird mit dem Alten abgeschlossen. Ich werde es im wahrsten Sinne des
Wortes hinter mir lassen. Nicht weglaufen, aber hinter mir
lassen.
    Die erste der drei
Urlaubswochen hatte er mit Tempotraining begonnen. Vier Mal
dreitausend Meter unter sechzehn Minuten. Es folgten
Dauerläufe und ein Halbmarathontest, für den er sich das
Rheinufer in Streckenabschnitte eingeteilt hatte. In der zweiten
Woche schaffte er den Kilometer in sechs Minuten und zwanzig
Sekunden, bis zum Wochenende sogar konstant auf
zweiunddreißig Kilometer. Am Ende der dritten Woche rannte er
mit einer Zeit von drei Stunden und achtundfünfzig Minuten in
Frankfurt ins Ziel. Er hatte es geschafft, nicht als Schlappwurst
ins Ziel zu torkeln, sondern stark und aufrecht die
Teilnahmemedaille in Empfang zu nehmen. So hatte alles angefangen,
vor zehn Jahren.
    Damals war seine Frau
noch mitgekommen. Irgendwie hat sie sich wohl dazu verpflichtet
gefühlt. Man war noch jung, man musste alles gemeinsam machen.
Das gehörte sich so. Sie hatte ihn gleich an drei Stellen auf
der Strecke angefeuert.
    Irgendwann, so nach
dem dritten oder vierten Lauf, war ihm das auf die Nerven gegangen.
Er brauchte diese Unterstützung nicht, von der alle
Läufer vor allem in Köln so schwärmten.
Sambatrommler, aufgeregte Familienmitglieder, bunte Schilder,
aufmunternde Sprüche, Menschen, die Läufern ein Bier
anboten -sollten die Leute doch ihren Spaß haben, ihn
ließen sie besser in Ruhe. 
    Sein Antrieb war
allein die Willenskraft. Das sorgfältige Training sorgte
für ein gutes Gewissen. Auch für den Lauf machte er sich
einen Plan, studierte auf Stadtplänen die Strecken, zerlegte
sie in Teilaufgaben, fuhr zu markanten Punkten, um sie sich
einzuprägen, ging Streckenabschnitte ab. In den letzten Tagen
vor dem Wettkampf tat er nichts mehr außer laufen, entspannen
und essen. Am Abend vor dem Start trank er eine Flasche Kölsch
und ging früh zu Bett. Er hatte nie erlebt, dass er vor einem
Start nicht richtig schlafen konnte.
    Vielleicht hätte
sich alles anders entwickelt, wenn wir ein Kind bekommen
hätten, dachte er, während er seine Muskeln vor dem
letzten Tempolauf dehnte. Aber Marion hatte nicht gewollt. Alles
war ihr wichtiger gewesen, die Karriere, die Freizeit, die Freunde,
Kunstausstellungen, Vernissagen, Malkurse, Urlaube. Sie hatte ihn
nie gefragt, ob ihm das alles so passe, und er hatte viel zu
spät bemerkt, dass sie ihn längst hätte fragen
müssen. Dass er selbst etwas sagen, bitten, anregen oder
fragen konnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen.
    Warum hatte er sich
nie beschwert? Weil er kein Recht dazu hatte? Er wusste es nicht.
Er wusste noch nicht einmal, was er hätte fragen müssen,
damit sein Leben an irgendeinem längst verpassten Punkt in
eine andere Richtung verlaufen wäre. Wahrscheinlich konnte
Marion gar nichts dafür. Wahrscheinlich lag dieser verpasste
Punkt noch länger zurück.
    Eine Ewigkeit war das
her, als er sich noch unschlagbar und unwiderstehlich gefunden
hatte. Er hatte nicht viel dafür tun müssen. Er hatte
immer ganz passabel ausgesehen, war überdurchschnittlich
intelligent und sportlich. Irgendwann hatten ihn seine Mitmenschen
sogar einmal humorvoll genannt. Man mochte ihn, das reichte

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