Marathon
warm.
Endlich eine
Möglichkeit, abzubiegen: Er lief durch ein kleines, offenes
Tor. Der Weg wurde etwas breiter, immer noch säumten hohe
Baumreihen die Strecke. Er schaute nach links und rechts. Das war
sonst nicht seine Art. Da rannte er geradeaus, den Blick nach vorne
gerichtet, unbeirrbar, mit einem klaren Ziel vor Augen.
Sch-sch-sch. Bäume, Bäume und plötzlich schemenhaft
dazwischen die Umrisse von zunächst gesichtslosen menschlichen
Gestalten.
Sch-sch-sch. Zwischen
jedem Baum ein Mensch, ein Mann, der ihm zuzusehen schien.
Regungslos und doch bedrohlich. Ein wenig Licht fiel auf die
Szenerie, gerade so viel, dass er die Gesichter der Männer
erkennen konnte. Blutleere Gesichter, aschfahl im Mondschein. Es
waren ihre Gesichter. Sie schienen zu lachen, doch er konnte sie
nicht hören. Sch-Vosskamp-sch-Leuschen-sch-Höllerbach und
wieder von vorne. Tote lachten über sein albernes
Training.
Er wusste nicht mehr,
wo er war. Das war ihm noch nie passiert. Er hatte sich verlaufen
im Wald der Toten. Er wusste nicht, ob er umkehren oder einfach
weiterrennen sollte, als er vor sich ein großes Kreuz
auftauchen sah.
Das Symbol des Todes
und der Erlösung ragte meterhoch vor ihm empor. Ihm wurde
klar, dass er auf einen der großen Kölner Friedhöfe
geraten war. Auf welchen, wusste er nicht. Er erkannte Grabsteine
in der Dunkelheit. Er suchte die bekannten Gesichter, doch
Vosskamp, Leuschen und Höllerbach schienen verschwunden. Kein
Mensch weit und breit. Er bog ein weiteres Mal rechts ein, meinte,
so automatisch den Weg zurück zu finden. Doch tatsächlich
schien er sich nur noch mehr zu verirren.
Kleine rote
Kerzenlichter in Grableuchten, die Flämmchen vor dem immer
stärker werdenden Regen schützten, schimmerten durch die
Baumreihen. Wo war sie hin, seine Ruhe und Gelassenheit, die seine
Vorbereitung für den großen Lauf bislang kennzeichnete?
Es waren die Toten, die ihm Angst machten.
Plötzlich knackte
es laut vor ihm, Äste zerbrachen, Holz splitterte: Auf dem Weg
baute sich eine große und schlanke, ganz in Schwarz
gekleidete Gestalt auf, um ihm den Weg zu versperren. Ihr Gesicht
hatte sie mit einer schwarzen Kapuze verhüllt. Er hätte
die Gestalt kaum bemerkt, hätte das schwache Dämmerlicht,
das durch die Baumkronen fiel, nicht die blinkende Klinge eines
langen Messers funkeln lassen.
Gassmann drosselte
sein Tempo. Dieser Mann würde ihn nicht vorbeilassen. Er kam
mit langsamen, ausladenden Schritten auf ihn zu. Ingo Gassmann
fühlte sich wehrlos, hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten
sollte. Schreien? Umdrehen? Wegrennen? Nichts von allem tat
er.
»Was wollen
Sie?«, flüsterte er stattdessen hilflos. Er war nicht
vorbereitet auf so eine Situation. Sie war nicht vorgesehen im
minutiös ausgearbeiteten Plan, der ihn ins Ziel des
Köln-Marathons führen sollte. Was für ein Ende. Ein
Überfall auf einem Friedhof, den er noch nicht einmal kannte.
Nein, das konnte es nicht sein nach all den Strapazen. Das war kein
würdiger Abschluss seines fast vierzigjährigen
Lebens.
Ingo Gassmann stand
regungslos auf seiner Laufstrecke, und während sich der Mann
näherte, wunderte er sich darüber, dass er gar nicht
außer Atem war. Er atmete ruhig und gleichmäßig.
Er würde sich nicht einfach ergeben. Er war stark und
druchtrainiert, kein Waschlappen. Angst war dazu da, sie zu
überwinden. Der Mann hatte einen Hut tief ins Gesicht gezogen,
Gassmann konnte nicht erkennen, mit wem er es tun hatte. Der Mann
schien zu nicken, wie zur Begrüßung. Dann hob er das
Messer.
Gassmann wartete
nicht. Er stürmte auf den Mann los, brüllte all seine
Angst hinaus, um sie in Wut zu verwandeln. Als er seinen
Körper mit aller Gewalt gegen ihn warf, spürte er, wie
ihm die Messerspitze am Oberarm entlangschrammte. Ein
fürchterlicher Schmerz durchfuhr ihn. Sofort spritzte Blut.
Beide stürzten in den Matsch des Friedhofwegs. Dabei rammte
Gassmann dem Messerstecher sein Knie in den Unterleib. Der Mann
versuchte, ein zweites Mal zuzustechen, doch Gassmann konnte
ausweichen. Während er zur Seite abrollte, donnerte er dem
Mann seine Faust ins Gesicht. Schnell stand Gassmann wieder auf den
Beinen. Bevor sein Gegner reagieren konnte, trat er ihm mit voller
Wucht auf den rechten Unterarm. Wieder stürzte er sich auf
ihn. Die Hand, die immer noch das Messer hielt, behielt er unter
Kontrolle. Er nahm noch einmal alle Kraft zusammen und schlug mit
seinem Kopf auf die blutverschmierte, gebrochene Nase des Mannes,
der
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