Marathon
du? Gassmann muss da
vorbeikommen. Chrischilles wird alles vorbereitet haben, wenn du da
bist. Dann kannst du ihn dir schnappen. Einer von uns wird Erfolg
haben.«
Sie sprang aus dem
Wagen, packte den Ordner an der Schulter und schubste ihn unsanft
vor sich her. Gröber kletterte über den
Gangschaltungshebel und ließ sich in den Fahrersitz fallen.
Ihm war das Tempo zu hoch geworden.
46
Grau die Stadt und
grau das Leben. All die Aufgeregtheiten, all die sinnlose
Geschäftigkeit. Man hetzt durchs Leben, ohne einmal tief Luft
zu holen.
Jetzt müsst ihr
laufen, richtig rennen, um mir folgen zu können, dachte er.
Ihr habt mein kleines Rätsel gelöst, Bullen! Mit fremder
Hilfe. Nichts versteht ihr. Und das ist doch so schade. Wenn ihr
einmal Luft holen würdet, während ihr über die Erde
kriecht. Einmal das Blut riechen könntet. Wie es pulsiert und
aus der offenen Wunde schlägt. Ihr wüsstet, was ihr habt
und wie schnell es vorbei sein kann.
Er drehte sich um, sah
in fremde Augen, hätte die Menschen, die zu diesen Augen
gehörten, gern angebrüllt, wachgebrüllt.
»Ihr
Krüppel, steht stramm auf dem euch zugewiesenen Platz. Alles
auf Anfang, alles von vorne, und doch bleibt alles gleich.
Strafappell. Alle Mann zurück in die Löcher. Das Messer
gewetzt, um euch gegenseitig abzustechen. Laut, viel zu laut. Ohne
Orientierung, aber immer laut.« Er strich seine Haare
zurück. »Menschen sind schon laut, wenn sie geboren
werden. Sie schreien.«
Er ahmte das
Geplärre eines kleinen Kindes nach. Schreiwahn.
Immerzu schreien sie.
Auch wenn sie stumm sind, schreien sie.
Er verzerrte das
Gesicht, ließ absichtlich seinen Kopf wie ein Spastiker
krampfhaft nach links zucken. Er spürte, wie er von Menschen
beobachtet wurde, die gleichzeitig alles taten, um ihrer Umwelt
vorzuspielen, dass sie ihn gerade nicht beobachteten. Dieser
verschämte Blick zur Seite, gezielt am Elend
vorbei.
So mogelt ihr euch
durch, oder? Tut das weh? Wenigstens manchmal? Wahrscheinlich
nicht. Da muss einer schon zur Tür hereinkommen und euch
böse überraschen, euch ein Messer im Leib umdrehen. Dann
wird alles plötzlich echt und ehrlich. Man kann sich dran
gewöhnen.
Er lachte.
Zivilisationsdreck.
47
Remmer kämpfte
sich durch die Menschenmasse. Verschwitzte Rollschuhfahrer,
Zuschauer, wartende Angehörige von Läufern, Fotografen
und irgendwelche Wichtigtuer mit einem Plastikschild am Kragen
liefen durcheinander und versperrten sich gegenseitig den Weg.
Niemand wirkte so, als wenn er wüsste, wo er hinwollte. Nur
Remmer wusste es. Den Ordner hatte sie längst überholt,
seitdem sie das Fähnchen des Malteser Hilfsdienstes gesehen
hatte, das an einem großen weißen Zelt flatterte. Die
Kommissarin schubste und rempelte mit.
»Was tun diese
Schwachköpfe alle hier?«, dachte sie laut, während
sie einer Frau mit gelbem Stirnband in einem hautengen rosaroten
Trainingsanzug ihren Zeigefinger in die Hüfte bohrte, um sie
unsanft zur Seite zu schieben. Sie konnte keine Rücksicht mehr
nehmen. Obwohl sie keine genaue Vorstellung davon hatte, warum
Lisas Vater ausgerechnet hier seine Tochter rächen wollte und
bei den vorangegangenen Morden blutige Zahlen an die Wände
geschmiert hatte, spürte sie, dass die Zeit knapp wurde.
Außer Atem erreichte sie das Zelt, vor dem ein viel zu
kleiner Sanitäter mit roter Signalweste versuchte, ihr den
Zutritt zu versperren. Remmer ignorierte den Mann und sein Fluchen,
nachdem sie in das Zelt gestürmt war. Ein einziger
uniformierter Polizist saß auf einer freien Liege und wartete
auf
sie.
»Ist nicht so
leicht, hier durchzukommen«, sagte er zur
Begrüßung.
»Ach?«
Remmer schnappte sich
ein Papierhandtuch und trocknete sich die Stirn. Dem Polizisten
drückte sie das Bild von Randberg in Wanderschuhen in die
Hand, befahl ihm, sich das Gesicht einzuprägen, und
wählte die Nummer von Chrischilles.
»Mit wie vielen
Leuten darf ich hier noch rechnen?«, brüllte sie in ihr
Handy.
»Sie sind auf
dem Weg. Die Zeit war knapp«, stammelte die
Kollegin.
»Wie
viele?«
»Ich weiß
es nicht. Vielleicht fünf, sechs.«
In dem Moment kam eine
junge Polizistin ins Zelt. Jetzt waren sie immerhin schon zu dritt,
um in einer riesigen Menschenmenge einen Mann zu suchen. Remmer
packte einen Sanitäter an der Schulter, der mit einem
Schwächeanfall auf Rollschuhen zu tun hatte.
»Hören
Sie«, schnaufte sie den Mann an. »Ich gebe ihnen dieses
Bild.« Sie riss der Polizistin das Foto aus der
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