Marathon
ignorierte. Würde
das wohl eher anspornen oder einen langsamer werden lassen?, fragte
er sich. Was macht Tempo? Was beschleunigt? Was hatte sein Leben
beschleunigt? Letztendlich doch nur die Flucht. Weglaufen von den
Dingen, die einem einmal wichtig waren. Abhaken. Nächstes
Kapitel. Kindheit, Schulzeit, Universität, ein paar
Liebschaften, manches, was sich Beziehung nannte, Beruf, eine Ehe
und immer wieder diese verdammten Erfahrungen, von denen man
glaubte, sie machen zu müssen.
Wenn er
zurückdachte, fielen ihm Leute ein und Dinge, die diese Leute
einmal gesagt hatten. Diese Wörter, diese Sätze, diese
Ratschläge und Dummheiten müsste man noch einmal greifen
können, dachte er, und die Personen dazu, um sie zu fragen, ob
sie tatsächlich alles so meinten, wie sie's gesagt hatten,
wenn sie sich überhaupt etwas gedacht hatten bei der
Aneinanderreihung von Wörtern. Man war nicht klug genug, um
Kluges zu sagen. Meist nicht klug genug, um die anderen zu
verstehen.
»Wie schaut's
aus, jetzt heute, wenn ihr zurückschaut?«, würde er
sie fragen. »Habt ihr eure Meinung
geändert?«
Leider ging das nicht.
Einige Anwohner am Karolingerring lagen in den Fenstern der
mehrstöckigen Häuser oder hatten sich auf die Fensterbank
gesetzt. Eine alte Frau schwenkte ein kleines Fähnchen. Was
mochte sie sich wohl dabei denken?
Die Weggefährten
sind fort, irgendwo stehen geblieben oder schneller gewesen.
Deshalb muss man allein ohne Gefährten seinen Weg gehen. So
wie der Marathoni. Er ist allein, obwohl er doch Tausende um sich
herum hat, so nah, dass er ihren Schweiß riechen kann, ihren
heißen Atem im Nacken spürt. Weiterlaufen bis ins Ziel.
Und was ist das Ziel außer einem weiteren klugen Wort? Hat
der Mensch ein Ziel? Ist tatsächlich ein befriedigender
Rückblick auf eine wie auch immer geartete Lebensleistung ein
Ziel? Oder reicht es, Spaß gehabt zu haben? Möglichst
viel davon? Eins von beiden musste es doch sein.
»Und was machen
all die vielen Menschen, die griesgrämig, gelangweilt oder
furchtbar gehetzt durchs Leben rennen, wenn sie sterben?«,
fragte er so laut, dass ihn eine Frau in einem dunkelblauen Trikot,
die neben ihm lief, überrascht ansah.
Er bemerkte ihren
Blick.
»Sehen Sie mich
nicht so blöd an«, blökte er die Läuferin an.
»Was werden Sie als Letztes denken, wenn Sie sterben? Haben
Sie darüber schon einmal nachgedacht?«
Die Frau schien zu den
Läufern zu gehören, die aufgrund eines zu hohen Tempos
nicht beim Rennen reden konnten. Sie schüttelte nur den
Kopf.
»Noch nicht?
Dann sollten Sie das mal schnellstens tun. Weil's keiner tut, muss
das alles hier zusammenbrechen, verstehen Sie? Sie werden es
erleben, wie sich alles auflöst. Das meiste hat sich
längst aufgelöst, wir merken es nur nicht. Die
große Auflösung. Uha, uha!« Er spielte für
die Frau ein Gespenst in der Geisterbahn. »Es hat schon
begonnen. Wir haben das Maß verloren. Sie laufen hier rum,
schauen auf Ihre Hightechuhr, um Zeiten zu vergleichen, Ihre
Leistung zu bewerten. Aber wir laufen nur, schöne Frau. Was
ist das schon? Auf welche Uhr schauen Sie, wenn Sie auf dem
Sterbebett liegen? Oder gleich hier
zusammenbrechen?«
Die Frau konnte ihm
nicht folgen. Er war zu schnell für sie.
»Sie sind
schön. Wirklich schön«, rief er ihr zu,
während er den Abstand immer weiter vergrößerte.
»Aber Schönheit ist nichts wert, wenn's drauf
ankommt.«
Jeder richtet sich, so
gut es geht, in seinem kleinen, kurzen Leben ein. Vosskamp,
Höllerbach, Leuschen, selbst Gollembeck. Man bastelt sich sein
Leben zurecht, nimmt hier etwas und da etwas, so wie beim Glauben
an irgendwas. Bloß nicht festlegen, bloß kein Maß
außer dem eigenen akzeptieren.
Wann hatte er damit
angefangen, sich abzufinden? Es musste einen Zeitpunkt gegeben
haben, an dem er aufgehört hatte, über sein Leben und das
zu reden, was aus ihm werden soll. Irgendwann wollte er einfach
nicht mehr über die Dinge sprechen, die den meisten Menschen
am Herzen lagen. Man hatte es oft genug getan und nichts damit
verändert. Also ließ man es.
»Es war nichts,
es wird nichts, und über nichts wird kein Wort
gewechselt.«
Manchmal war es seiner
Frau gelungen, ihn zu solchen Gesprächen, die er nicht mochte,
zu zwingen. Ja, er hatte sich nach einer kleinen, eigentlich
belanglosen Krise sogar zu dem Experiment überreden lassen,
regelmäßig Zwiegespräche nach strengen Regeln zu
führen. Anderthalb Stunden Gespräch über sich
selbst, jeder immer eine
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