Marathon
als
Vosskamp das Schwert führte. Das Mädchen war völlig
willenlos, schon lange nicht mehr Herrin ihrer Sinne. Und trotzdem
hatte sie groß, stark und mächtig gewirkt. Sie hatten
alle Vorsichtsmaßnahmen vergessen.
Nun sah er wieder
dieses großartige, furchtbare Bild, das sich in seinen Kopf
gebrannt hatte und ihn seit über zwanzig Jahren immer von
einem blutroten Engel träumen ließ. Randy stand mit
gespreizten Beinen und weit von sich gestreckten Armen im
Feuerschein, während Höllerbach sie von hinten
stützte. Aus beiden Armen spritzte Blut, und sie schrie dabei
vor Freude.
Heute wie damals
erschreckte ihn die Symmetrie des Bildes. Wie Leonardo da Vincis
Proportionsstudie, sein »Homo vitru-vius«, an dem man
die Perfektion beweisen konnte, mit der die Natur den Menschen
entstehen ließ. Das Wunderwerk der Schöpfung, an die
Gassmann nicht glaubte.
Er konnte sich genau
erinnern, wie ihm da Vincis Zeichnungen von Gliedmaßen,
Koitus und Gebärmutter durch den Kopf gingen, während
langsam aus Randys Schreien ein monotones Summen wurde, ihr Mund zu
einem übertriebenen Lächeln zu erstarren schien. Sie
hatten sich diese Bilder unzählige Male angesehen und ihre
Bewunderung für diesen mutigen Mann zum Ausdruck gebracht.
Auch er war heimlich auf Friedhöfe geklettert, um Dinge zu
tun, die andere strengstens verboten hatten. Da Vinci sezierte
Leichen bei Kerzenlicht. Fieberhaft soll er das getan haben, um die
wahre Schönheit des Körpers zu entdecken. Diese Neugier
hatte sie fasziniert. Mehr hatten sie über diesen Mann nicht
wissen müssen.
Gassmann konnte sich
für die Ignoranz hassen, mit der sie damals durch ihre kleine,
beschissene Welt gezogen und dabei fest davon überzeugt
gewesen waren, die Wahrheit zu kennen.
Während Lisa
summte und blutete, hatten Vosskamp oder Leuschen weiter
lateinische Verse gemurmelt, mit denen sie den Adressaten dieses
Opfers heraufbeschwören wollten. Tatsächlich waren die
Verse nur noch belanglose, monotone Begleitung für die
Verwandlung von vier erwachsenen Männern in Tiere. Randy
schien mit aller Kraft gegen die Ohnmacht anzukämpfen. Niemand
bemerkte mehr, dass das Blut nicht stockte. Niemand kümmerte
sich um das mitgebrachte Verbandszeug.
Gassmann wurde
übel. Er hielt Ausschau nach der nächsten
Verpflegungsstation. Er musste dringend einen Becher Wasser
trinken. Wie sollte man jemals mit so etwas wieder ins Reine
kommen? Es war nicht nur Randys Tod, den er zu verantworten hatte.
Wie war es möglich, sich selbst so zu erniedrigen und
aufzugeben? Der Verstand hatte ausgesetzt, nur noch Begierden
und Gelüste hatten sie
angetrieben. So war ein Mensch grausam gestorben, den sie dann noch
aus Feigheit in den Rhein geworfen hatten. Gassmann griff hastig
nach dem Wasserbecher, als er endlich die Verpflegungsstation
erreicht hatte. Er trank einen kleinen Schluck, spülte sich
den Mund aus und spuckte auf die Straße. Den Rest des Wassers
kippte er sich über den Kopf.
»Ruhig
bleiben«, ermunterte er sich, als er den Friedhof hinter sich
ließ. In dreiundzwanzig Kilometern war es vorbei.
48
Remmer hätte am
liebsten um sich getreten. Eine Bierkiste, eine Motorhaube -
irgendetwas zum Draufklettern musste sie finden, um besser sehen zu
können. Was wollten all die Menschen hier? Das war völlig
ineffektiv, was sie hier machte. Warum sollte Randberg ausgerechnet
im Ziel des Köln-Marathons auf Gassmann warten? Die drei Morde
waren alle in den Wohnungen der Opfer geschehen. Ein klares Muster.
Warum sollte Gassmann auf andere Weise sterben? Vielleicht hatte
sie sich völlig verrannt?
Sie zückte ihren
Ausweis und hielt ihn jedem unaufgefordert unter die Nase, um sich
langsam immer näher an die Ziellinie heranzuschieben.
Schließlich erreichte sie die hohen Absperrgitter, mit denen
der Bereich hinter dem Ziel abgetrennt war. Hier würden bald
Hunderte zusammenbrechen, schwitzend und keuchend, vielleicht auch
glücklich herumirren. In einiger Entfernung sah sie die langen
Biertischreihen, die die Organisatoren aufgebaut hatten - voll
beladen mit Medaillen, die an die Läufer, die es bis ins Ziel
schaffen würden, verteilt werden sollten.
»Hallo, wie
komme ich da rein?«, rief sie durch den Zaun. Der
angesprochene Ordner reagierte mit einem abfälligen
Lächeln. Auch als sie ihn anbrüllte, zeigte das keine
Wirkung. Neben ihr stand ein dicker Mann mit einem Rucksack und
Videokamera, offensichtlich auf der Suche nach einem guten
Standort, um den Zieleinlauf zu filmen.
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