Marathon
geeinigt. Ein neuer Gesellschaftsvertrag, die
gültige Übereinkunft über anhaltenden
Stillstand.
56
Remmer inspizierte
ihre Fingernägel, von denen der Lack abbröckelte. Ihre
Schuhe lagen neben drei leeren Kaffeebechern unter dem Stuhl, von
dem aus sie Randberg musterte. Was konnte sie noch tun? Lisas Vater
hatte seine Frau angerufen. Sie stellte sich vor, wie diese am
anderen Ende der Leitung in Tränen ausgebrochen war, nur weil
er seinen Namen genannt hatte. »Ich komme bald heim«,
hatte er gesagt und dass sie sich keine Sorgen machen müsse.
Er habe ein bisschen Zeit für sich gebraucht und werde ihr die
Gründe später erklären. Randberg hatte leise
gesprochen. Sie hatte Mitleid mit ihm, ohne genau zu wissen, warum.
Es wollte alles keinen Sinn ergeben.
»Gibt es noch
etwas zu tun?«, fragte einer der beiden Polizisten
leise.
Sie zog die Schultern
hoch.
Gröber hatte
seinen sportlichen Misserfolg per Funk bekannt gegeben, und sie sah
keinen Grund mehr, Gassmann am Zieleinlauf zu hindern.
»Soll ich Sie
nach Hause fahren, Herr Randberg?«, fragte sie
ihn.
Der gebeugte Mann sah
sie an. Er nickte, und sie wunderte sich darüber, dass dieser
Mann auch mal lächeln konnte.
»Lassen Sie uns
den Mann in ein Krankenhaus bringen«, beendete der
Sanitäter den ersten Anflug von Kommunikation zwischen der
Polizistin und dem verletzten Mann. Sofort verdunkelte sich
Randbergs Miene wieder. Sie ignorierte den Einwand des
Sanitäters. Wer sich tagelang so durchs Leben schleppt, wird
es auch noch ein paar Stunden länger tun können. Sie
würde unterwegs einen Arzt alarmieren, der zu Hause auf ihn
warten könnte.
»Ich brauche
einen Streifenwagen«, befahl sie den Polizisten, während
sie mit den Füßen unter dem Stuhl nach ihren Schuhen
suchte. »Bringen Sie uns hier raus.«
Sie schnürte ihre
Schuhe, nahm die Jacke von der Stuhllehne und bot Randberg ihre
Hilfe an. Der richtete sich mühsam auf, rutschte von der Trage
und begann, vorsichtig durch das Zelt zu humpeln. Ein Polizist
dirigierte einen Wagen so nah wie möglich an das Zelt heran.
Zwei Helfer schleppten einen Mann mit einem Schwächeanfall ins
Zelt. Als sich Randberg bei ihr unterhakte, kam er ihr
plötzlich unglaublich alt vor. Sie zog ihn langsam zum
Ausgang. Ein Polizist hielt für sie die Zeltplane hoch.
Randberg atmete tief ein, als er ins Freie trat.
»Warten Sie
einen Moment«, bat er freundlich. Er stockte und ließ
seinen Blick durch den Zielbereich schweifen. Läufer rannten
über die Zielgerade, Helfer nahmen Athleten in Empfang und
dirigierten sie durch den Zielbereich, Fotografen suchten nach
Motiven. Es waren immer noch die Spitzenläufer, die ins Ziel
kamen. Überschwänglich wurde von dem plappernden
Moderator ein Triathlet begrüßt, der vor dem Marathon
schon die Strecke mit Rollschuhen hinter sich gebracht hatte. Er
sah aus, als könnte er noch eine weitere Runde
dranhängen. Randberg schien etwas oder jemanden zu suchen. Er
sah zu dem Platz, an dem er gestanden hatte, schaute zur
Tribüne hinüber und in die dichten Zuschauerreihen. Er
schüttelte den Kopf, und wieder glaubte Remmer, ein schwaches
Lächeln zu erkennen. Randberg ließ sich
weiterziehen.
Bis zum Auto waren es
mühsame hundert Meter. Der bestellte Streifenwagen stand in
der Auffahrt zur runden, einst so prächtigen Eingangshalle des
Deutzer Bahnhofs. Sie schleppte Randberg die Rampe hoch,
öffnete die Wagentür und setzte sich neben ihn auf den
Rücksitz.
»Warten
Sie«, sagte sie zu dem jungen Fahrer, als er den Wagen anlassen wollte.
Wieder hatte sie das Gefühl, etwas übersehen zu haben und
vielleicht einen Fehler gemacht zu haben, als sich Gröber
über Funk meldete.
»Ich muss mit
Remmer sprechen«, blökte ihr Kollege aus dem
scheppernden Lautsprecher.
»Was willst
du?«, fragte sie, nachdem ihr der Polizist das Funkgerät
gegeben hatte. »Bist du wieder fit?«
»Keine Zeit
für Witze. Dieser Gassmann ist ein Spinner. Er hat zugegeben,
auf dem Friedhof dabei gewesen zu sein.«
Randberg konnte jedes
Wort mithören.
»Sie sei einen
Zentimeter von der Wahrhaftigkeit entfernt gewesen, hat er gesagt.
Sie habe sich geopfert. Völlig durchgeknallt, der Typ. Aber im
Gegensatz zu mir topfit.«
Remmer unterbrach ihn
nicht. Während Gröber sprach, erinnerte sie sich an das
schwache Lächeln Randbergs, als sie ihm angeboten hatte, ihn
nach Hause zu fahren, sah ihn die Zuschauerreihen absuchen,
hörte die Worte, die er an seine Frau gerichtet hatte.
»Es ist
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