Marc Levy
Vortag hatte sich ihre Schicht weit über die üblichen 6
vierundzwanzig Stunden hinaus verlängert, als noch spät die Opfer eines Großbrandes eingeliefert wurden. Zehn Minuten vor der Ablösung waren die ersten Krankenwagen in der Notaufnahme angekommen, und unter den verzweifelten Blicken ihres Teams hatte sich Lauren ohne Zögern daran gemacht, die ersten Verletzten auf die verschiedenen Aufnahme- und OP-Bereiche zu verteilen. Mit schlafwand-lerischer Sicherheit untersuchte sie jeden Patienten in wenigen Minuten, wies ihm ein farbiges Etikett zu, das die Schwere seiner Verletzungen anzeigte, notierte eine vorläufige Diagnose, bestimmte die ersten Untersuchungen und schickte die Sanitäter in den entsprechenden Raum. Um Punkt null Uhr dreißig waren alle sechzehn eingelieferten Personen aufgenommen, und die Chirurgen, die man zusammengerufen hatte, konnten eine Viertelstunde später mit den ersten Operationen dieser langen Nacht beginnen.
Lauren hatte Doktor Fernstein bei seinen beiden ersten Eingriffen assistiert, und sie verabschiedete sich erst, als der Arzt darauf bestand. Bei ihrer Übermüdung, so meinte er, würde sie nur seine Patienten in Gefahr bringen.
Mitten in der Nacht verließ sie am Steuer ihres Triumph den Parkplatz des Krankenhauses und fuhr schnell durch die menschenleeren Straßen nach Hause. »Ich bin zu müde, und ich fahre zu schnell«, wiederholte sie sich von Minute zu Minute, um nicht einzuschlafen, aber die Vorstellung, wieder in die Notaufnahme zurück zu müssen, diesmal übers Foyer statt über den Bühneneingang, genügte, um sie wach zu halten.
Sie öffnete die ferngesteuerte Garagentür und parkte ihren alten Wagen. Durch den Gang gelangte sie zur Haupttreppe, nahm immer zwei Stufen auf einmal und betrat endlich erleichtert ihre Wohnung.
Die Zeiger der Pendeluhr auf dem Kaminsims standen auf halb zwei. Lauren ließ ihre Kleider mitten im Zimmer auf den Boden fallen. Gänzlich nackt trat sie hinter die Küchentheke, 7
um sich einen Kräutertee zu machen. Die im Regal aufgereihten Gläser enthielten alle möglichen Sorten, als hätte jeder Augenblick des Tages seinen eigenen Teeduft. Sie stellte ihre Tasse auf den Nachttisch, schlüpfte in das bereitliegende Nachthemd, kuschelte sich unter die Bettdecke und schlief sofort ein. Der vergangene Tag war viel zu lang gewesen, und der kommende sollte sie früh auf den Beinen sehen.
Endlich einmal fielen zwei freie Tage auf ein Wochenende, und so hatte sie eine Einladung zu Freunden nach Carmel angenommen. Erschöpft, wie sie war, hätte sie den Vormittag durchaus im Bett zubringen können, doch nichts in der Welt konnte Lauren an diesem Morgen daran hindern, um halb sechs aufzustehen. Sie liebte den Tagesanbruch auf der Küstenstraße am Pazifik, die San Francisco mit der Bucht von Monterey verbindet. Noch halb im Schlaf tastete sie nach dem Wecker, um ihn auszuschalten. Mit beiden Fäusten rieb sie sich die Augen und richtete ihren ersten Blick auf Kali, die auf dem Teppich lag und sie erwartungsvoll anschaute.
»Starr mich nicht so an, ich bin schon gar nicht mehr hier.«
Beim Klang ihrer Stimme kam die Hündin sofort ums Bett getrottet und legte ihren Kopf auf den Bauch ihrer Herrin. »Ich verlasse dich für zwei Tage, meine Kleine. Mama wird dich gegen elf Uhr abholen. Rutsch mal und lass mich aufstehen, ich geb dir auch gleich was zu fressen.«
Lauren streckte ihre Beine, reckte die Arme, gähnte ausgiebig und sprang mit einem Satz aus dem Bett.
Sie fuhr sich durch die Haare, trat hinter die Theke, öffnete den Kühlschrank, gähnte noch einmal und holte Butter, Marmelade, Toast, die Büchse für den Hund, eine angebrochene Packung Parmaschinken, ein Stück Gouda, eine Tasse mit kaltem Kaffee, zwei Becher Milch, ein Glas Apfelkompott, zwei Joghurt natur, Frühstücksflocken und eine halbe Pampelmuse hervor; was davon nicht im Kühlschrank war, fand sie in dem kleinen Schränkchen unter der Theke.
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Kali sah ihr mit schiefgelegtem Kopf zu, bis Lauren ihr einen strengen Blick zuwarf und rief:
»Ich hab' eben Hunger!«
Wie gewöhnlich bekam zuerst die Hündin ihr Fressen in einer schweren Terrakotta-Schüssel.
Dann machte Lauren sich selbst ein Tablett zurecht und setzte sich an ihren Schreibtisch. Von dort aus konnte sie, wenn sie nur leicht den Kopf wandte, Sausalito mit seinen an die Hänge geklammerten Häusern sehen, die Golden-Gate-Bridge, die sich zwischen den beiden Seiten der Bucht spannte, den Fischereihafen
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