Marc Levy
von Tiburon und, direkt unter sich, die Dächer, die in Stufen zur Marina hin abfielen. Sie machte weit das Fenster auf, die Stadt war vollkommen still. Nur die Signalhörner der großen Frachtschiffe, die Richtung China ausliefen, vermischt mit den Schreien der Möwen, wiegten die leise Wehmut dieses Morgens in ihrem Takt. Sie streckte sich noch einmal und machte sich mit großem Appetit über ihr Riesenfrühstück her. Gestern hatte sie aus Zeitmangel nicht zu Abend gegessen. Dreimal hatte sie versucht, ein Sandwich hinunterzuschlingen, doch jedes Mal wurde sie angepiept und zu einem neuen Notfall gerufen. Wer immer sie traf und nach ihrer Arbeit fragte, bekam als einzige Antwort: »Hab's eilig.«
Nachdem sie einen guten Teil ihres Festmahls verspeist hatte, stellte sie das Tablett in die Spüle und ging ins Bad.
Sie fuhr mit den Fingern über die hölzernen Lamellen der Fensterläden, um sie dann zu schließen, ließ ihr weißes Baumwollnachthemd zu Boden gleiten und stellte sich unter die Dusche. Der kräftige Wasserstrahl ließ sie vollends wach werden.
Ein Handtuch um die Hüften geschlungen, trat sie vor den Spiegel und schnitt eine Grimasse. Sie entschied sich für ein leichtes Make-up, zog eine Jeans an, ein Polohemd, zog die Jeans aus, streifte sich einen Rock über, zog den Rock aus und die Jeans wieder an. Sie nahm einen Seesack aus dem Schrank, 9
stopfte ein paar Klamotten hinein, ihren Kulturbeutel, und fühlte sich fertig und bereit fürs Wochenende. Sie drehte sich um und betrachtete das Ausmaß der herrschenden Unordnung -
Kleider am Boden, Handtücher verstreut, Geschirr in der Spüle, das Bett nicht gemacht. Lauren setzte ein sehr entschlossenes Gesicht auf und verkündete dem Durcheinander mit lauter Stimme:
»O. k., sagt jetzt nichts, nicht meckern, ich komme morgen zeitig zurück und räume euch für die Woche auf!«
Dann nahm sie einen Bleistift und ein Stück Papier, schrieb darauf die folgende Nachricht:
Mama,
danke fürs Hundehüten, räum auf keinen Fall auf, ich mach das alles, wenn ich zurückkomme.
Ich fahre direkt bei dir vorbei, um Kali abzuholen, am Sonntag gegen fünf.
Ich liebe Dich,
Dein Leibarzt.
und klemmte den Zettel mit einem Magnetfrosch an die Kühlschranktür.
Sie zog ihren Mantel an, strich der Hündin zärtlich über den Kopf, küsste sie auf die Stirn und warf die Tür hinter sich zu.
Sie stieg die große Treppe hinunter, ging zur Garage und schwang sich in ihr altes Cabriolet.
»Ich bin weg, endlich weg«, wiederholte sie sich. »Ich kann es nicht glauben, es ist fast ein Wunder, vorausgesetzt, Ihre Lordschaft ist so gnädig anzuspringen. Wenn du auch nur einmal hustest, ersäuf ich deinen Motor in Sirup, bevor ich dich auf den Schrottplatz werfe und durch ein neues, ganz und gar elektronisch gesteuertes Auto ersetze, ohne Choke, eines, das nicht zickt, wenn es morgens kalt ist. Ich hoffe, du hast verstanden! Und los!«
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Es schien, als hätte die Entschlossenheit, mit der seine Besitzerin ihre Absichten vortrug, den alten Engländer tief beeindruckt, denn sein Motor reagierte auf die erste Drehung des Zündschlüssels. Ein schöner Tag kündigte sich an.
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Lauren fuhr sehr langsam los, um die Nachbarn nicht zu wecken. Die Green Street ist eine hübsche, von Bäumen und Wohnhäusern gesäumte Straße, und die Menschen hier kennen sich wie in einem Dorf. Sechs Kreuzungen vor der Van Ness Avenue, einer der beiden Hauptverkehrsadern, die die Stadt durchziehen, schaltete Lauren in den nächsten Gang.
Ein zartes, von Minute zu Minute in immer intensiveren Farben spielendes Licht enthüllte allmählich das wundervolle Panorama der Stadt. Der Wagen fuhr nun schnell durch die menschenleeren Straßen. Lauren berauschte sich am Zauber dieses Augenblicks, am schwindelerregenden Auf und Ab der Hügel von San Francisco.
Eine schwungvolle Kurve in die Sutter Street. Ein Klicken in der Lenkung. Zum Union Square hin fällt die Straße steil ab, es ist sechs Uhr dreißig, das Radio tönt in voller Lautstärke, Lauren ist glücklich wie schon lange nicht mehr. Vergessen der Stress, das Krankenhaus, die Pflichten. Das beginnende Wochenende gehört nur ihr allein. Jede Minute ist kostbar. Der Union Square liegt still da. In ein paar Stunden wird es hier von Touristen und Einheimischen wimmeln, ein Gable Gar wird dem anderen folgen, die Schaufenster werden hell erstrahlen, am Eingang des Parkhauses wird sich eine lange Autoschlange bilden. In den Grünanlagen
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