Marc Levy
Hunderten von bizarren Motiven, doch alle Täter hätten eines gemeinsam gehabt, sie seien Kriminelle, Verkorkste, Besessene gewesen.
Bei Arthur aber schiene dies nicht der Fall zu sein. Nachdem er also, so schloss er, sein ganzes Leben damit zugebracht hatte, irgendwelche Spinner einzubuchten, ginge es ihm jetzt darum, einem anständigen Typen, der eine einzige Dummheit begangen hatte, den Bau zu ersparen. »Ich will das Gefühl haben, wenigstens einmal auf der richtigen Seite gewesen zu sein.«
»Das ist sehr anständig von Ihnen, und ich meine es so, wie ich es sage. Ich habe das Essen mit Ihnen genossen, doch mit der Sache, von der Sie reden, habe ich nichts zu tun. Ich möchte Sie nicht hinauswerfen, aber ich habe zu tun, vielleicht sehen wir uns bei anderer Gelegenheit einmal wieder.«
Pilguez nickte bedauernd mit dem Kopf, nahm seinen Regenmantel und erhob sich. Lauren, die während des ganzen 205
Gespräches der beiden Männer auf dem Büfett gesessen hatte, sprang auf die Füße
und folgte ihnen in den Flur, der zum Hauseingang führte.
Vor der Tür des Arbeitszimmers blieb Pilguez stehen und sah auf die Klinke.
»Haben Sie den Schrein Ihrer Erinnerungen nun geöffnet?«
»Nein, noch nicht«, erwiderte Arthur.
»Es ist mitunter hart, wieder in die Vergangenheit einzutauchen, es kostet Kraft und Mut.«
»Ja, das ist wahr, genau darum ringe ich gerade.«
»Ich weiß, dass ich mich nicht täusche, junger Mann, mein Instinkt hat mich noch nie getrogen.«
Als Arthur seinen Gast zum Gehen aufforderte, begann sich der Türknauf zu drehen, als ob jemand ihn von innen bewegte, und die Tür ging auf. Arthur drehte sich verblüfft um. Im Rahmen stand Lauren und lächelte ihn traurig an.
»Warum hast du das getan?« flüsterte er mit erstickter Stimme.
»Weil ich dich liebe.«
Von dort, wo er stand, konnte Pilguez augenblicklich den Körper auf dem Bett und die Flasche mit der Infusion sehen.
»Gott sei Dank, sie lebt.« Er ließ Arthur an der Tür stehen, betrat das Zimmer, näherte sich Laurens Körper und kniete neben ihr nieder. Lauren schlang ihre Arme um Arthur.
Zärtlich küsste sie ihn auf die Wange.
»Du hättest es nicht geschafft. Ich will nicht, dass du meinetwegen dein Leben ruinierst, ich will, dass du frei und glücklich bist.«
»Aber du bist es, die mich glücklich macht.«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen.
»Nein, nicht so, nicht unter diesen Umständen.«
»Mit wem sprechen Sie?« fragte der alte Polizist sehr freundlich.
»Mit ihr.«
206
»Das müssen Sie mir jetzt erklären, wenn ich Ihnen helfen soll.«
Arthur sah Lauren voller Verzweiflung an.
»Du mußt ihm die Wahrheit sagen. Er wird dir glauben oder nicht, aber bleibe bei der Wahrheit.«
»Kommen Sie«, sagte er zu Pilguez, »gehen wir ins Zimmer hinüber, ich werde Ihnen alles erklären.«
Die beiden Männer setzten sich auf das breite Sofa, und Arthur erzählte seine Geschichte von jenem ersten Abend an, als eine Unbekannte, die in seiner Wohnung im
Badezimmerschrank versteckt gewesen war, zu ihm gesagt hatte: »Das, was ich Ihnen sagen werde, ist nicht einfach zu verstehen und ganz und gar unvorstellbar. Aber wenn Sie bereit sind, meine Geschichte anzuhören und mir zu vertrauen, dann werden Sie mir am Ende vielleicht glauben, und das ist sehr wichtig, denn Sie sind, ohne es zu wissen, der einzige Mensch auf der Welt, mit dem ich dieses Geheimnis teilen kann.«
Und Pilguez hörte ihm zu, ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Viel später am Abend, als Arthur seine Erzählung beendet hatte, erhob er sich von seinem Sitz und maß sein Gegenüber mit Blicken.
»Sie sehen, mit dieser Geschichte haben Sie einen Verrückten mehr in Ihrer Sammlung, Inspektor!«
»Ist sie hier?« fragte Pilguez.
»Sie sitzt Ihnen gegenüber und schaut Sie an.«
Pilguez nickte und bearbeitete seinen kurzen Bart.
»Natürlich«, sagte er, »natürlich.«
»Was werden Sie jetzt tun?« fragte Arthur.
Er würde ihm glauben! Und wenn Arthur ihn fragen sollte, weshalb, nun, das war ganz einfach. Um sich eine solche Geschichte auszudenken und soviel dafür zu riskieren, musste einer nicht nur verrückt, er musste vollkommen geistesgestört sein. Und der Mann, der ihm da bei Tisch von der Geschichte der Stadt erzählt hatte, in deren Dienst er seit mehr als dreißig 207
Jahren stand, war mit Sicherheit kein Geisteskranker.
»Irgendetwas Wahres muß an Ihrer Geschichte dran sein, damit Sie all das hier anstellen konnten.
Weitere Kostenlose Bücher