Marc Levy
Damoklesschwert, das über ihnen hing.
Von Zeit zu Zeit ging Arthur ins Büro, tauchte kurz dort auf, um ein paar Schriftstücke zu unterzeichnen. Den Rest des Tages verbrachten sie zusammen im Kino oder bei langen Spaziergängen in den Alleen des Golden Gate Parks. An einem Wochenende fuhren sie nach Tiburon, in das Haus eines Freundes, das dieser Arthur während seiner Reisen nach Asien zur Verfügung stellte. Ein andermal segelten sie ein paar Tage in der San Francisco Bay, wo sie an der Küste entlang von 210
einer kleinen Bucht zur nächsten schipperten.
Sie gingen so oft wie möglich aus: ins Variete, ins Ballett, ins Konzert und ins Theater. Sie verbrachten diese Stunden wie lange, genüssliche Ferien, in denen man alles tut, worauf man Lust hat. Wenigstens dieses eine Mal blendeten sie das Kommende aus und lebten ganz dem Augenblick, ohne zu planen, ohne an irgendetwas anderes zu denken als an das unmittelbar Gegenwärtige. Die Theorie der Sekunden, wie sie es nannten. Die Menschen, die ihnen begegneten und sahen, wie Arthur laut mit sich selber sprach oder mit abgewinkeltem Arm herumlief, hielten ihn für verrückt. In den Restaurants, in denen sie verkehrten, hatten sich die Kellner an diesen Mann gewöhnt, der, obwohl er allein am Tisch saß, sich plötzlich vorbeugte und so tat, als würde er eine Hand ergreifen und sie küssen, die für aller Augen unsichtbar war; der mit sanfter Stimme Selbstgespräche führte und an der Tür einer Person, die nicht da war, den Vortritt ließ. Die einen meinten, er habe den Verstand verloren; andere stellten sich vor, dass er ein Witwer sei, den der Schatten seiner verstorbenen Frau nicht losließe. Arthur kümmerte sich nicht mehr darum, er genoss jeden einzelnen dieser Augenblicke, aus denen ihre Liebe gewirkt war. In wenigen Wochen wurden sie die engsten Vertrauten, Geliebten und Gefährten. Paul machte sich keine Sorgen mehr, er hatte sich mit der Krise, die sein Freund durchmachte, abgefunden. Nachdem er sicher sein konnte, dass die Entführung keine Konsequenzen haben würde, führte er weiter die Geschäfte, überzeugt davon, dass sein Kompagnon sich eines Tages fangen und alles wieder zu seiner Normalität zurückfinden würde. Er hatte keine Eile. Das Wichtigste war, dass es dem, den er seinen Bruder nannte, besser oder einfach gut ging, egal in welcher Welt er auch gerade leben mochte.
Drei Monate gingen so ins Land, ohne dass irgendetwas ihr Beisammensein gestört hätte.
Es geschah an einem Dienstag, in der Nacht. Sie hatten den 211
Abend zu Hause verbracht und waren dann zu Bett gegangen.
Nach einigen innigen Umarmungen hatten sie die letzten Seiten eines Romans gelesen, den sie auch gemeinsam begonnen hatten. Spät in der Nacht waren sie eng umschlungen eingeschlafen.
Gegen sechs Uhr morgens setzte sich Lauren plötzlich im Bett auf und rief Arthurs Namen. Er schrak hoch und starrte sie an. Sie saß im Schneidersitz, ihr Gesicht war fast durchscheinend blass.
»Was ist los?« fragte er voller Sorge.
»Nimm mich schnell in den Arm, ich flehe dich an.«
Er drückte sie an sich, und ohne dass er seine Frage wiederholen musste, legte sie ihre Hand an seine schlafwarme Wange, fuhr sanft darüber, ließ ihre Finger zu seinem Kinn hinab gleiten und umfing seinen Nacken in einer unendlich zärtlichen Geste. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Es ist soweit, mein Herz, sie holen mich fort, ich bin dabei zu verschwinden.«
»Nein!« rief er aus und umschlang sie noch fester.
»Mein Gott, wie sehr möchte ich bei dir bleiben, ich hätte mir so sehr gewünscht, dass das Leben mit dir niemals aufhört, nicht bevor es überhaupt angefangen hat.«
»Du kannst nicht gehen, du darfst nicht, wehre dich, ich flehe dich an!«
»Sag nichts, hör mir zu, ich fühle, dass mir nur noch wenig Zeit bleibt. Du hast mir so vieles gegeben, was ich mir nie erträumt hätte. Nichts von alledem, was vor dir war, ist auch nur eine der Sekunden wert, die wir gemeinsam verbracht haben. Ich möchte, dass du weißt und nie vergisst, wie sehr ich dich geliebt hätte. Ich weiß nicht, zu welchen Ufern ich aufbreche, aber wenn es ein Jenseits gibt, dann werde ich dich dort mit all der Innigkeit und Freude weiter lieben, die du in mein Dasein gebracht hast.«
»Aber ich will nicht, dass du gehst!«
212
»Sag nichts, hör mir zu.«
Und während sie sprach, wurde ihre Erscheinung langsam durchsichtig. Ihre Haut wurde klar wie Wasser. Schon schlössen sich seine Arme um eine
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