Marco Polo der Besessene 1
jeder leere Ozean. Sie ist riesig und höchst vielfältig im Charakter und enthält stets das Versprechen von noch größerer Weite und bunterer Vielfalt, läßt diese tatsächlich auftauchen und verspricht noch mehr davon. Der Reisende an Land erfährt die gleichen Empfindungen, die ein Mensch hat, wenn er ganz nackt ist -das Gefühl grenzenloser Freiheit, gleichzeitig jedoch auch das Gefühl, verwundbar und ungeschützt und -im Verhältnis zu der ihn umgebenden Welt sehr klein zu sein.
Was ich noch sagen möchte, ist, daß die Karten lügen. Selbst die besten aller Landkarten, wie wir sie zum Beispiel im kitab des al-Idrisi mit uns führten, trügen -sie können gar nicht anders. Das liegt daran, daß auf Karten alles nach denselben Maßstäben angegeben wird, und das täuscht. Angenommen zum Beispiel, der Weg führt den Reisenden über einen Berg. Zwar vermag die Landkarte einen vor diesem Berg warnen, ehe man seiner gewahr geworden ist, und sogar anzugeben, wie hoch, breit und lang dieser Berg ungefähr ist -was die Karte jedoch nicht verrät, das ist die Beschaffenheit des Bodens und des Wetters, das herrscht, wenn man ihn erreicht, oder gar, in welch einem Zustande der Berg selbst sich befindet. Ein Berg, den ein jungen Mann in bester Gesundheit bei gutem Wetter vielleicht ziemlich mühelos bewältigen kann, kann einem Mann, den Alter oder Krankheit oder Ermüdung durch die vielen Länder, die er bereits durchmessen hat, bei Kälte oder gar bei Winterstürmen beträchtlich weniger einladend, abweisend oder sogar abschreckend vorkommen. Da die Darstellungsmöglichkeiten auf einer Landkarte beschränkt sind, sind diese trügerisch, kann ein Reisender länger brauchen, einen Fingerbreit auf der Landkarte voranzukommen als vorher ganze Handspannen.
Selbstverständlich begegneten wir auf unserer Reise nach Baghdad keinen solchen Schwierigkeiten, brauchten wir doch dem Fluß Furat auf seinem Lauf stromabwärts durch das Flachland nur zu folgen. Zwar holten wir in gewissen Abständen unseren kitab hervor, doch nur, um uns zu vergewissern, wie die Karte mit der uns umgebenden Wirklichkeit zusammenpasse -was mit lobenswerter Genauigkeit der Fall war -, und manchmal fügte mein Vater oder Onkel zu den bereits vorhandenen Eintragungen noch eine weitere hinzu, um nützliche Landmarken festzuhalten, welche die Karten unterschlugen: Flußbiegungen, Inseln darin, derlei Dinge. Und alle paar Nächte holte ich, wiewohl das nicht nötig gewesen wäre, das kamäl hervor, das wir gekauft hatten. Diesen in der durch den Knoten in der Schnur angegebenen Entfernung in Richtung auf den Nordstern vor mich hinhaltend und den unteren Rand des kleinen Rahmens auf den Horizont auflegend, sah ich jedesmal, daß der Stern sich immer weiter von dem oberen Rand des Rahmens entfernte. Das bestätigte uns, was wir bereits wußten: Wir bewegten uns in südöstlicher Richtung.
Überall in diesem Lande überschritten wir ständig die unsichtbaren Grenzen, die ein kleines Volk von dem andern trennt, wobei die Völker gleichfalls unsichtbar blieben und nur ihr Name vorhanden war. Das ist überall in der Levante das gleiche: die größeren Landstriche dort werden auf den Karten als Armenien, Antiochien, Heiliges Land und so weiter wiedergegeben, doch innerhalb dieser Gebiete erkennen die Einheimischen zahllose kleinere Gebiete an und belegen sie mit Namen und nennen diejenigen, die darin leben, Volk oder Völkerschaft, deren armselige Häuptlinge sie hochtrabend manchmal sogar König nennen. In den Bibelstunden in meiner Kindheit hatte ich von levantinischen Königreichen wie Samaria und Tyros und Israel gehört und mir vorgestellt, daß es mächtige Länder von überwältigender Größe wären. Ihre Könige Ahab und Hiram und Saul waren für mich Herren über große Völkerschaften gewesen. Jetzt erfuhr ich von den Einheimischen, denen wir begegneten, daß wir selbsternannte Reiche wie Nabaj und Bishri und Khubbaz durchquerten, die von allerlei Königen und Sultanen, Atabegs und Sheiks regiert wurden.
Doch ein jedes dieser Länder ließ sich in einem oder zwei Tagen durchreiten, und sie waren so eintönig und gesichtslos und arm und voll von Bettlern, sonst jedoch nur spärlich bevölkert, und der einzige ›König‹, den wir hier kennenlernten, war nichts weiter als der älteste Ziegenhirt eines von der Ziegenzucht lebenden bedawi-Stamms. Kein einziges dieser auf kleinem Raum zusammengedrängten Königreiche und Scheichtümer in diesem Teil der
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