Marco Polo der Besessene 1
den Nestorianern zu nähren, die uns für gewöhnlich sehr gastfreundlich und hilfreich begegneten.
Sollte es den Prete Zuäne aber in Wirklichkeit doch geben und nicht nur in der Phantasie der Abendländer -und wäre er, wie das Gerücht es will, ein Abkömmling der Heiligen Drei Könige -, hätten wir ihm begegnen müssen, als wir Persien durchquerten, denn dort haben die Heiligen Drei Könige gelebt, und von Persien aus sind sie dem Stern von Bethlehem bis an die Krippe gefolgt. Allerdings würde das bedeuten, daß der Prete Zuäne Nestorianer gewesen wäre, denn nur solche gibt es in diesen Landen. Und tatsächlich haben wir unter den Persern auch einen Christen dieses Namens gefunden, doch der kann unmöglich der Prete Zuäne der Legende gewesen sein. Der Mann hieß Vizan, was die persische Lesart jenes Namens ist, der woanders Zuäne, Giovanni, Johannes oder John lautet. Vizan gehörte von Geburt der persischen Königsfamilie an war also als Shahzade oder Prinz zur Welt gekommen -, hatte aber in seiner Jugend den Glauben der östlichen Kirche angenommen, was bedeutete, daß er nicht nur dem Islam entsagte, sondern auch seines Titels und seines Erbes, des ihm zustehenden Reichtums und der Privilegien ebenso verlustig ging wie des Rechts, in der Thronfolge des Shahs zu stehen. All dem hatte er entsagt, um sich einem Stamm nestorianischer bedawin anzuschließen. Inzwischen ein uralter Mann, war er der Älteste und Anführer sowie anerkannter Priester dieses Stamms geworden. Wir stellten fest, daß es sich bei ihm um einen guten und weisen Mann handelte. Was das betrifft, entsprach er durchaus dem, was man sich unter dem legendären Prete Zuäne vorstellt. Nur über ein ausgedehntes, reiches und volkreiches Gebiet herrschte er nicht, sondern nur über einen ziemlich abgerissenen Sta mm einiger zwanzig verarmter und landloser Schafhirtenfamilien.
Diesen Schafhirten begegneten wir eines Nachts, als wir keine karwansarai in der Nähe fanden. Die Leute luden uns ein, ihr Lager zu teilen, das sie in der Mitte ihrer Herde aufgeschlagen hatten, und so verbrachten wir den Abend in Gesellschaft ihres Priesters Vizan.
Während er und wir an einem kleinen Feuer lagerten und unser schlichtes Mahl einnahmen, verwickelten mein Vater und Onkel ihn in ein theologisches Streitgespräch und brachten es gekonnt fertig, viele der von dem alten bedawin am meisten geliebten ketzerischen Lehren als unhaltbar hinzustellen und zu erschüttern. Ihm jedoch schien das überhaupt nichts auszumachen, und er schien auch nicht willens, die Fetzen, die von seinem Glauben übriggeblieben waren, ganz von sich zu tun. Statt dessen wandte er sich in der Unterhaltung fröhlich dem Hof von Baghdad zu, an dem wir vor kurzem als Gast geweilt hatten, und fragte uns nach allen, die dort lebten und selbstverständlich seine königlichen Verwandten waren. Wir berichteten ihm, daß es ihnen gutgehe, daß sie blühten und gediehen, wiewohl sie verständlicherweise unter der Oberherrschaft des Khanats litten. Der alte Vizan schien erfreut über diese Neuigkeiten, und diese Freude schien auch nicht im geringsten beeinträchtigt durch irgendwelche nostalgischen Sehnsüchte nach dem Leben in höfischer Pracht, das er vor so langer Zeit aufgegeben hatte. Erst als Onkel Mafio zufällig die Shahrpiryar Shams erwähnte -wobei ich innerlich zusammenzuckte -, stieß der alte Schafhirten-Bischof einen Seufzer aus, den man als Zeichen von Bedauern hätte auslegen können.
»Dann lebt die Prinzessinnen-Mutter immer noch?« sagte er. »Nun, dann muß sie fast achtzig Jahre alt sein, genauso wie ich.« Und ich zuckte abermals zusammen.
Er schwieg eine Weile, nahm dann einen Stecken zur Hand, stocherte im Feuer herum und starrte gedankenverloren in die Glut. Dann sagte er: »Zweifellos sieht man es der Shahrpiryar Shams heute nicht mehr an -doch auch wenn Ihr guten Brüder mir vielleicht nicht mehr glaubt, diese Prinzessin Sonnenlicht war in ihrer Jugend die schönste Frau von ganz Persien, vielleicht die allerschönste Frau aller Zeiten.«
Mein Vater und mein Onkel murmelten irgend etwas Unverbindliches, und ich mußte immer noch mit der lebhaften Erinnerung an die völlig verrunzelte und verlebte alte Vettel kämpfen.
»Ach, als sie und ich und die Welt noch jung waren«, sagte der alte Vizan verträumt. »Ich war damals noch Shahzade von Täbris, und sie war die Shahzrad, älteste Tochter des Shahs von Kirman. Berichte über ihre Schönheit ließen mich von Täbris
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