Marco Polo der Besessene 1
Baba, sei er einer Diebesbande in die Hände gefallen, die ihn in einen Krug mit Sesamöl gesteckt habe; gewiß hätte man ihm den sprechenden Kopf vom mürbe gewordenen Hals gerissen, wäre ihm nicht ein anderes schönes Mädchen zu Hilfe geeilt, das gleichfalls seinem Zauber erlegen sei und ihn aus dem Krug und damit aus den Händen der Diebe befreit hätte. Als Ali-ad-Din habe er noch ein anderes reizendes Mädchen dazu gebracht, allen Mut zusammenzunehmen und ihn aus den Klauen eines afritizu befreien, der unter dem Befehl eines bösen Zauberers gestanden habe...
Nun, diese Geschichten waren genauso unglaubwürdig wie all die Märchen, die Shahryar Zahd uns erzählt -aber auch nicht unglaubwürdiger als seine Beteuerung, einst ein gutaussehender Mann gewesen zu sein. Kein Mensch hätte ihm das geglaubt. Hätte er auch die üblichen zwei Nasenlöcher gehabt oder deren gar drei - das hätte seiner Ähnlichkeit mit einem großschnäbligen, kinnlosen, kugelbäuchigen shuturmurq-Kamelvogel keinerlei Abbruch getan, die durch den Stoppelbart unter seinem Schnabel nur noch komischer wirkte. Nasenloch ging jedoch noch weiter und behauptete -was noch unglaubwürdiger klingt -, nicht nur ein schöner Mann sei er gewesen, sondern auch einer, der viele überaus beherzte und Mut erfordernde Heldentaten vollbracht hätte. Höflich lauschten wir ihm, wußten jedoch, daß seine ganze Aufschneiderei nichts war als »Rebranken ohne Trauben«, wie mein Vater es später ausdrückte.
Einige Tage später, als mein Onkel unser weiteres Vordringen gen Osten mit den Landkarten im Kitab des al-Idrisi verglich, verkündete er, wir seien an eine wahrhaft historische Stätte gelangt. Seinen Berechnungen zufolge müßten wir nahe jener im Alexanderbuch erwähnten Stelle sein, wo die Amazonenkönigin Thalestris dem Eroberer mit ihrem Heer von Kriegerinnen gegenübergetreten war, ihn zu begrüßen und ihm zu huldigen. Wir müßten uns auf Onkel Mafios Wort verlassen, denn es war weit und breit kein Monument zu sehen, dieses Zusammentreffen zu feiern.
In späteren Jahren bin ich oft gefragt worden, ob ich auf meinen Reisen jemals dem Volk der Amazonen begegnet sei. Doch das ist weder in Persien noch sonstwo der Fall gewesen. Später, im unmittelbaren Herrschaftsbereich der Mongolen, traf ich zwar viele Kriegerinnen, doch die waren sämtlich ihren Männern untergeordnet. Übrigens hat man mich auch oft gefragt, ob ich in jenen fernen Landen jemals dem Priester Johannes begegnet sei, oder dem Priester John oder Prete Zuäne, wie er in anderen Sprachen heißt; bei diesem verehrten und mächtigen Mann handelt es sich offensichtlich um eine in den Nebeln von Mythos und Fabel, Rätsel und Legende eingehüllte Gestalt.
Seit mehr als hundert Jahren gehen im Abendland Gerüchte über ihn um: er sei ein direkter Nachkomme eines der Heiligen Drei Könige, die als erste das Christuskind angebetet hätten, und folglich selbst ein frommer Christ von königlichem Geblüt, darüber hinaus aber auch noch reich und mächtig und weise. Als christlicher Monarch eines dem Vernehmen nach immens großen christlichen Reiches hat er die Phantasie der Abendländer immer wieder beschäftigt. Wenn man aber bedenkt, wie zerrissen das Abendland ist, aus wie vielen kleinen Nationen es besteht, die von vergleichsweise kleinen Königen und Herzögen und dergleichen beherrscht werden, die unablässig Krieg gegeneinander führen -und überdies auch noch einem Christentum angehören, das ständig neue kirchenspalterische und einander feindselig gesonnene Sekten hervorbringt -, ist es nur allzu natürlich, daß wir unseren Blick mit sehnsüchtiger Bewunderung jenen unglaublich großen Völkergemeinschaften zuwenden, die alle friedlich unter einem Herrscher und einem allerhöchsten Hohenpriester, die wiederum beide in ein und derselben herrscherlichen Persönlichkeit vereint sind.
Außerdem hat das Abendland immer dann, wenn es von heidnischen Wilden, die aus dem Osten herangebrandet kamen, bedrängt wurde - also von Hunnen, Tataren, Mongolen und den muslimischen Sarazenen -, inbrünstig gehofft und dafür gebet, daß der Prete Zuäne mit seinen Legionen christlicher Krieger im noch ferneren Osten hinter den Linien der Invasoren auftauchen möge, damit die Heere dieser Heiden zwischen seinen und unseren Streitkräften aufgerieben würden. Doch der Prete Zuäne ist nie aus seinen geheimnisumwitterten fernen Ländern im Osten aufgetaucht, um den christlichen Abendländern in den
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