Marco Polo der Besessene 1
mit
meinem Bruder Aziz?«
Für einen Moment hämmerte ich auf einem Kissen herum, das
mir überhaupt nichts getan hatte, doch dann sagte ich: »Sag
mir eines, Sitare. Verausgabt jedes Mädchen in ganz Persien
ihre Energie damit, die Kupplerin für jemand anders zu
spielen?«
Darüber mußte sie nachdenken. »In ganz Persien? Das weiß
ich nicht. Aber hier in Kashan, jawohl, hier ist das oft der Fall.
Es ist die Folge eines feststehenden Brauchs. Ein Mann sieht
einen anderen Mann, oder einen Knaben, und ist von ihm
entflammt. Nur ihm rundheraus den Hof machen kann er nicht,
denn das verstößt gegen das Gesetz des Propheten.«
»Friede und Segen seien mit Ihm!« brummelte ich.
»Jawohl. Und deshalb macht der betreffende Mann der
nächsten Blutsverwandten des anderen Mannes den Hof.
Notfalls heiratet er sie sogar. Denn dann hat er einen Vorwand,
in der Nähe dessen zu sein, den sein Herz eigentlich begehrt den Bruder der Frau vielleicht oder ihren Sohn, wenn es sich
um eine Witwe handelt, oder gar ihren Vater -und hat dann jede
Gelegenheit, zina mit ihm zu begehen. Auf diese Weise,
versteht Ihr, wird der Anstand jedenfalls gewahrt.«
»Himmelherrgott!«
»Deshalb, meinte ich, machtet Ihr mir den Hof. Aber
selbstverständlich, wenn Ihr meinen Bruder gar nicht wollt,
könnt Ihr mich nicht haben.«
»Und warum das nicht? Du schienst erfreut, als du feststelltest,
daß ich dich wollte und nicht ihn.«
»Ja, das bin ich auch. Erfreut und erstaunt zugleich. Wer hätte
das gedacht -daß Ihr mich vorziehen würdet; eine christliche
Schrulle, möchte ich meinen. Aber ich bin nun einmal noch
Jungfrau und muß um meines Bruders willen auch Jungfrau
bleiben. Ihr seid mittlerweile durch viele muslimische Länder
gekommen, und so werdet Ihr dies eine begriffen haben. Das
ist der Grund, warum eine Familie ihre unberührten Töchter und
Schwestern in strenger pardah hält und eifersüchtig über ihre
Tugend wacht. Nur wenn eine Jungfrau unberührt bleibt oder eine Witwe keusch, kann sie hoffen, eine gute Ehe einzugehen. Zumindest hier in Kashan ist das so.«
»Nun, das ist mehr oder minder auch dort so, wo ich
herkomme...«, mußte ich zugeben. »Nun, ich werde mich bemühen, mich mit einem guten Mann zu verheiraten, der gut für uns beide sorgt und ein guter Liebhaber für uns ist, denn Aziz ist der einzige aus meiner Familie, den ich noch habe.«
»Moment, Moment«, sagte ich entsetzt. »Die Keuschheit einer Venezianerin ist häufig ein hoher Einsatz beim Feilschen und wird auch oft eingesetzt, um sich einen reichen Ehemann zu angeln und eine vorteilhafte Ehe zu schließen, gewiß. Doch das nur zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg der gesamten Familie. Willst du mir jetzt weismachen, die Frauen seien damit einverstanden, daß ein Mann sich nach einem anderen verzehrt, und bereit, ein Auge darüber zuzudrücken? Du würdest absichtlich die Frau eines Mannes werden, damit du ihn mit deinem Bruder teilen könntest?«
»Oh, nicht mit jedem Mann, der daherkommt«, sagte sie hochmütig. »Ihr solltet Euch geschmeichelt fühlen, daß Ihr mir und Aziz zugleich gefallen habt.«
»Gesü!«
»Euch mit Aziz zu paaren, verpflichtet Euch zu gar nichts,
versteht Ihr? Schließlich hat ein Mann kein sangar-Häutchen.
Wollt Ihr jedoch das meine durchstoßen, müßt Ihr mich schon
heiraten und uns beide nehmen.«
»Gesü!« Ich erhob mich von dem diwan.
»Ihr geht? Dann wollt Ihr mich also nicht? Und was ist mit Aziz?
Ihr wollt ihn nicht einmal, ein einziges Mal?«
»Ich glaube nicht, nein danke, Sitare.« Ich schlich mich zur Tür.
»Ich hatte einfach keine Ahnung von den Bräuchen hier in
Kashan.«
»Er wird untröstlich sein, zumal, wenn ich ihm auch noch sagen
muß, daß ich es war, die Ihr begehrt habt.«
»Dann tu's nicht«, murmelte ich. »Sag ihm einfach, ich hätte keine Ahnung gehabt von den Kashaner Bräuchen.« Damit ging ich zur Tür hinaus.
Zwischen Haus und Stallung eingeklemmt lag ein Kräuter-und Gemüsegärtlein, in dem Witwe Esther sich gerade aufhielt. Sie hatte nur einen Pantoffel an, der andere Fuß war nackt; den ausgezogenen Pantoffel hielt sie in der Hand und schlug damit auf den Boden ein. Neugierig näherte ich mich und sah, daß sie immer und immer wieder auf einen großen schwarzen Skorpion einhieb. Nachdem dieser bis zur Unkenntlichkeit zermalmt war, ging sie weiter und drehte einen Stein um; träge
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