Marco Polo der Besessene 1
nur eine Kelle Brunnenwasser erhalten können; in der Nacht jedoch hatten wir uns in ebendiesen selben Stätten der Gastlichkeit bis zur Besinnungslosigkeit mit Essen vollstopfen können. Aus diesem Grunde hatten wir schon seit geraumer Zeit mit Verdauungsbeschwerden zu tun, und so entsprang Onkel Mafios Vorschlag keineswegs irgendeiner Grille oder Laune des Augenblicks.
Ich brauche wohl kaum darauf hinzuweisen, daß die Juden im Orient selten darauf verfallen, vorüberziehenden Fremden gegen Entgelt eine Lagerstatt und Essen zur Verfügung zu stellen - was sie ja im Abendland auch nur selten tun -, und das auch zweifellos schon allein deshalb, weil das weit weniger profitbringend und mit mehr Arbeit verbunden ist als das Verleihen von Geld und andere Formen des Wuchers. Doch wie dem auch sei, unser Sklave Nasenloch war ein überaus findiger Bursche. Es bedurfte bei ihm nur weniger Erkundigungen bei Vorübergehenden, da erfuhr er von einer älteren jüdischen Witwe, deren Haus neben einem schon seit längerer Zeit nicht mehr benutzten Stall gelegen war. Dorthin führte Nasenloch uns und schaffte es, bei der Witwe vorgelassen zu werden, und erwies sich offenbar als ein überaus beredter und überzeugender Abgesandter. Als er wieder aus ihrem Haus herauskam, berichtete er, sie gestatte, daß wir unsere Kamele in ihren Stallungen unterbrächten und wir selbst in dem darüber-gelegenen Heuboden nächtigten.
»Außerdem«, erklärte er, als wir unsere Reittiere hineinführten und uns anschickten, sie von ihren Traglasten zu befreien, »hat die Almauna Esther eingewilligt, uns -da all ihre Diener Kashaner Perser sind, die sich den Vorschriften des ramazan zu beugen haben -eigenhändig zu bekochen und zu beköstigen. Ihr werdet also wieder zur gewohnten Zeit essen können, und sie hat mir versichert, sie sei eine gute Köchin. Und die Bezahlung, die sie verlangt, ist auch nicht übertrieben.«
Mein Onkel starrte den Sklaven fassungslos an und sagte dann geradezu ehrfürchtig: »Du bist ein Muslim, also das, was ein Jude am meisten verachtet, und wir sind Christen, also das, was sie gleich danach am meisten verachten. Wenn das nicht schon ausreichte, Witwe Esther zu veranlassen, uns davonzujagen, mußt du doch das ekelerregendste und abstoßendste Geschöpf sein, das sie jemals erblickt. Wie in Gottes Namen hast du all dies zuwege gebracht«
»Ich mag zwar nur ein Sindi und Sklave sein, Herr, aber dumm und einfallslos bin ich nicht. Außerdem kann ich lesen und habe schließlich Augen im Kopf.«
»Dazu gratuliere ich dir. Trotzdem beantwortet das weder
meine Frage, noch wirst du deshalb weniger häßlich.« Nachdenklich kratzte Nasenloch sich den schütteren Bart. »Mirza Mafio, Ihr werdet in den heiligen Büchern Eurer und meiner Religion und auch in dem der Almauna Esther das Wort Schönheit zwar oft erwähnt finden, niemals jedoch das Wort Häßlichkeit, jedenfalls nicht in besagten Schriften. Vielleicht fühlen sich unsere verschiedenen Götter durch das häßliche Aussehen von so etwas Geringem wie einem Sterblichen nicht beleidigt, und vielleicht ist die Almauna Esther eine gottesfürchtige Frau. Gleichviel -denn noch ehe diese heiligen Bücher geschrieben wurden, gehörten wir ein und derselben Religion an -meine Ahnen, die der Almauna und vielleicht auch die Euren -, der alten babylonischen Religion nämlich, die jetzt als heidnisch verteufelt wird.«
»Unverschämter Emporkömmling! Wie kannst du es wagen, so etwas Ungeheuerliches zu behaupten?« herrschte mein Vater ihn an. »Der Name der Almauna lautet Esther«, fuhr Nasenloch ungerührt fort, »und es gibt auch christliche Damen, die diesen Namen tragen. Selbiger leitet sich von der furchtbaren Göttin Ishtar her. Der verstorbene Gatte der Almauna, so hat sie mir gesagt, hieß Mordecai, und dieser Name wiederum leitet sich von dem furchtbaren Gott Marduk her. Aber längst ehe es diese Götter in Babylon gab, gab es Noah und seinen Sohn Sein, und die Almauna und ich sind Abkömmlinge ebendieses Sein. Nur die späteren Unterschiede unseres Glaubens trennen uns Semiten; allzu trennend kann dieser Unterschied jedoch nicht sein. Denn Muslime und Juden meiden gewisse Speisen, beide besiegeln wir durch die Beschneidung unserer Söhne unseren Glauben, beide glauben wir an die himmlischen Engel und verabscheuen denselben Feind, ob dieser nun Satan genannt wird oder Shaitan. Beide halten wir die heilige Stadt Jerusalem hoch in Ehren. Vielleicht wißt Ihr nicht, daß
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