Marco Polo der Besessene 1
vorüberzwängte und durch die Tür
hinausging zum Stall. Was er gesagt hatte, lief auf ein Wortspiel hinaus, denn im Venezianischen bedeutet ›fiame‹ nicht nur einfach ›Flamme‹, sondern ist auch eine Bezeichnung für Rothaarige oder ein heimliches Liebespaar. Ich nahm daher an, daß mein Onkel sich scherzhaft über das lustig machte, was für ihn offensichtlich eine Liebelei zwischen einem Jungen und einem Mädchen war.
Sobald er außer Hörweite war, sagte Sitare zu mir: »Morgen. An der Küchentür, wo ich Euch schon einmal eingelassen habe. Zur gleichen Stunde.« Gleich darauf war sie irgendwo im hinteren Teil des Hauses verschwunden.
Ich schlenderte den vorderen Gang entlang und betrat den Raum, aus dem ich die Stimmen meines Vaters und der Witwe Esther hörte. Als ich eintrat, sagte er gerade mit gedämpfter, sehr ernst klingender Stimme: »Ich weiß, nur Euer gutes Herz hat Euch dazu gebracht, das vorzuschlagen. Ich wünschte nur, Ihr hättet mich zuerst gefragt und keinen anderen.«
»Ich wäre nie darauf gekommen«, sagte sie gleichfalls in gedämpftem Ton. »Und wenn er, wie Ihr sagt, sich edelmütig bereit erklärt hat, sich bessern zu wollen, würde ich nicht gern den Anlaß für einen Rückfall geben.«
»Nein, nein«, sagte mein Vater. »Euch trifft überhaupt keine Schuld, selbst dann, wenn die gute Absicht sich als etwas erweist, was das Gegenteil zur Folge hat. Wir werden darüber reden, und ich werde ihn freimütig fragen, ob dies eine unwiderstehliche Versuchung wäre. Auf der Basis werden wir dann entscheiden.«
Dann bemerkten sie meine Anwesenheit und ließen augenblicklich das Thema fallen, über das sie gerade geredet hatten. Mein Vater sagte: »Ja, es hat gutgetan, daß wir die paar Tage hiergeblieben sind. Es gibt mehrere Dinge, die wir brauchen und die während des ramazan im bazär einfach nicht zu bekommen sind. Wenn der Fastenmonat morgen zu Ende geht, wird man sie wieder kaufen können; auch das lahmende
Kamel wird dann wieder auf den Beinen sein, und wir werden
zusehen, daß wir am nächsten Tag Weiterreisen können. Wir
können Euch nicht genug für die Gastfreundschaft danken, die
Ihr uns während unseres Aufenthaltes hier bewiesen habt.«
»Was mich übrigens daran erinnert«, sagte sie, »daß Euer
Abendessen fast fertig ist. Ich werde es Euch so bald wie
möglich in Euer Quartier bringen.«
Mein Vater und ich kletterten beide zum Heuboden hinauf, wo
wir Onkel Mafio dabei vorfanden, wie er die Karten unseres
Kitab studierte. Er sah von der Landkarte auf, in die er gerade
vertieft war, und sagte: »Unser nächstes Ziel ist Mashhad, und
es ist keine Kleinigkeit, dorthin zu gelangen. Wir müssen uns
darauf gefaßt machen, daß zwischen Kashan und Mashhad
sich nur Wüste dehnt -es ist die breiteste Stelle des Dasht-e-
Kavir überhaupt. Hinterher sind wir bestimmt ausgedörrt und
verschrumpelt wie ein bacalä -wie ein Stockfisch.« Er hielt
inne, um sich kräftig am linken Ellbogen zu kratzen. »Irgendein
verdammter Käfer hat mich gebissen, und jetzt juckt es.«
Ich sagte: »Die Witwe meint, in dieser Stadt wimmelt es von
Skorpionen.«
Mein Onkel bedachte mich mit einem verächtlichen Blick.
»Solltest du jemals von einem gestochen werden, asenazzo,
wirst du die Erfahrung machen, daß Skorpione nicht beißen.
Nein, was mich gebissen hat, war eine winzige kleine Fliege,
die ein vollkommenes gleichschenkliges Dreieck bildete. Und
so klein war, daß ich es einfach nicht fasse, was für einen
quälenden Juckreiz ihr Biß ausgelöst hat.«
Witwe Esther überquerte mehrere Male den Hof, um das
Geschirr zu bringen, von dem wir essen sollten; und während
wir aßen, beugten wir drei uns gemeinsam über den Kitab.
Nasenloch aß für sich unten im Stall bei den Kamelen, aber fast
genauso laut wie ein kauendes Kamel. Ich versuchte, das
Geräusch einfach zu überhören und mich auf die Karten zu
konzentrieren.
»Du hast recht, Mafio«, sagte mein Vater. »An dieser Stelle ist
die Wüste am breitesten. Gott steh uns bei!«
»Dabei aber eine Route, der man leicht folgen kann, denn
Mashhad liegt nur ein wenig nordöstlich von hier. Um diese
Jahreszeit brauchen wir daher unser Ziel nur einmal am Tag,
bei Sonnenaufgang, anzuvisieren.«
»Und ich«, ließ ich mich vernehmen, »werde die Richtung
häufig mit unserem kamäl kontrollieren.«
»Mir fällt auf«, sagte mein Vater, »daß al-Idrisi in der ganzen
Wüste
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