Marco Polo der Besessene 1
es so zum
besten wäre.« »Hier in Kashan«, fuhr Sitare fort, »ist Aziz nur einer von unzähligen hübschen Jungen, die alle darin wetteifern, einem der durchreisenden anderun-Beschaffer aufzufallen. Hier kann Aziz bestenfalls hoffen, einem solchen aufzufallen und Konkubine irgendeines Edelmanns zu werden, von dem sich nicht vorhersagen läßt, ob er ein guter oder ein böser, ein lasterhafter Mensch ist. In Mashhad hingegen könnte er einem der reichen durchziehenden Kaufleute vorgestellt werden; vielleicht mag der ihn und kauft ihn. Möglich, daß er sein Leben als Konkubine dieses Mannes beginnt, aber er hat dann zumindest Gelegenheit zu reisen, erlernt möglicherweise den Beruf seines Herrn und kann etwas Besseres aus sich machen, als nur ein anderun-Spielzeug zu sein.«
Herumzuspielen war dasjenige, wonach auch mir im Augenblick der Sinn am meisten stand. Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, mit dem Reden Schluß zu machen und anzufangen, anderes zu tun. Gleichwohl ging mir in diesem Augenblick eine Wahrheit auf, die, wie ich meine, nicht vielen Reisenden jemals dämmert.
Wir, die wir durch die Welt ziehen, verweilen flüchtig in dieser oder jener Stadt; eine jede stellt nur ein Bündel flüchtiger Eindrücke unter einer ganzen Reihe solcher Bündel dar. Menschen sind für sie nur nebelhafte Gestalten, die für einen Augenblick aus den Staubwolken auftauchen, die unseren Pfad begleiten. Wir Reisende haben für gewöhnlich ein Ziel und verbinden einen Zweck damit, dieses zu erreichen; jeder Schritt auf dieses Ziel zu ist nur ein Meilenstein auf dem Weg dorthin. In Wirklichkeit ist es jedoch so, daß die Menschen, die dort leben, auch schon gelebt haben, ehe wir dorthin kamen, und weiterleben werden, nachdem wir längst fort sind. Sie haben ihre eigenen Sorgen -Hoffnungen, Ehrgeiz und Pläne -, die für sie selbst von so großer Bedeutung sind, daß sie gelegentlich sogar zu uns Vorüberziehenden davon reden. Folglich dachte ich wohlwollend über die ernsten Worte sowie die glühenden Gesichter von Sitare und Aziz nach, da sie von ihren
Hoffnungen und Plänen und ihrem Ehrgeiz sprachen. Und von
diesem Augenblick an habe ich mich auf all meinen Reisen
bemüht, auch noch den unbedeutendsten Ort in seiner
Gesamtheit zu sehen und die niedrigsten Bewohner darin
ausführlich zu betrachten.
»Wir bitten Euch daher nur, Aziz mit nach Mashhad zu
nehmen«, sagte Sitare, »und dort einen reichen kanvan-
Händler von freundlichem Wesen und anderen guten
Eigenschaften auszusuchen...«
»Jemand wie Ihr selbst einer seid, Mirza Marco«, sagte der
Junge.
»... und Aziz an ihn zu verkaufen.«
»Deinen Bruder verkaufen?« entfuhr es mir.
»Ihr könnt ihn schließlich nicht einfach mit dorthin nehmen und
dann sich selbst überlassen -einen kleinen Jungen in einer
fremden Stadt. Unser Wunsch ginge dorthin, daß Ihr ihn bei
dem bestmöglichen Herrn und Gebieter unterbringt. Und, wie
ich schon gesagt habe, werdet Ihr aus diesem Geschäft einen
hübschen Gewinn schlagen. Für die Mühe, die es Euch bereitet
hat, ihn mitzunehmen, und die Mühe, genau den richtigen
Käufer für ihn zu finden, könnt Ihr den ganzen Betrag behalten,
den Ihr für ihn erzielt. Für einen solchen hübschen Jungen
sollte das ein erkleckliches Sümmchen sein. Das ist doch mehr
als recht und billig, oder?«
»Ja, durchaus«, sagte ich. »Vielleicht ließen mein Vater und
mein Onkel sich durch diese Aussicht bewegen einzuwilligen,
aber versprechen kann ich das nicht. Schließlich bin ich nur
einer von dreien. Ich muß ihnen den Vorschlag unterbreiten.«
»Das erübrigt sich«, sagte Sitare. »Unsere Herrin hat bereits
mit ihnen gesprochen. Denn Mirza Esther ist gleichfalls viel
daran gelegen, daß Aziz auf einen Weg gebracht wird, der in
ein besseres Leben für ihn führt. Soweit ich weiß, denken Euer
Vater und Euer Onkel über den Vorschlag nach. Solltet also Ihr
nichts dagegen haben, Aziz mitzunehmen, würde Eure Stimme
den Ausschlag geben.«
Wahrheitsgemäß sagte ich: »Die Stimme der Witwe hat vermutlich mehr Gewicht als die meine. Und da dem so ist, Sitare, warum warst du dann bereit« - mit einer entsprechenden Handbewegung deutete ich ihren unbekleideten Zustand an -, »zu solchen Mitteln zu greifen, um mich zu bewegen, zu tun, was du möchtest?«
»Nun«, sagte sie lächelnd und nahm die Kleider, die sie in der Hand hielt, beiseite, um mir noch einen ungehinderten Blick auf sie zu
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