Marco Polo der Besessene 1
den unzivilisierten Völkern weiter im Osten, so vermutete ich, war das wohl genauso. Auf jeden Fall kam es mir so vor, daß die Verworfenheit meines Onkels in der Vergangenheit irgendwo Probleme aufgeworfen haben mußte.
Ich nahm an, daß mein Vater bereits Grund gesehen hatte, dem Bruder die verhängnisvolle Neigung austreiben zu wollen, und Onkel Mafio offenbar immer wieder versucht hatte, seinen Trieb zu unterdrücken. Wenn das stimmte, so überlegte ich, war er nicht ganz und gar zu verachten; vielleicht gab es sogar noch Hoffnung für ihn.
Wie dem auch sei -ich würde mich bemühen, ihn bei seinen Bemühungen zu unterstützen. Wenn wir weiterzogen, das nahm ich mir vor, wollte ich nicht vorwurfsvoll weit von ihm entfernt reiten, seinem Blick ausweichen oder mich weigern, mit ihm zu sprechen. Ich wollte kein Wort über das Vorgefallene verlieren und durch kein Wort verraten, daß ich um sein schändliches Geheimnis wußte. Was ich mir jedoch sehr wohl vornahm, war, ein besonders wachsames Auge auf Aziz zu haben und den Jungen im Schutze der Nacht nicht wieder allein umherlaufen zu lassen. Besonders väterlicher Fürsorge wollte ich mich befleißigen, wenn wir wieder einmal eine grüne Oase erreichten. An solchen Orten herrschte immer die Neigung, Zucht und Selbstüberwindung ein wenig schleifenzulassen, wie man auch seinen Muskeln die Entspannung gönnte. Befanden wir uns wieder in einer solchen Umgebung, in der es einem vergleichsweise gutging und man sich gern gehenließ, konnte mein Onkel der Versuchung vielleicht nicht widerstehen, mehr von Aziz kennenzulernen, als er bisher zu kosten bekommen hatte.
Tags darauf ritten wir in nordöstlicher Richtung weiter in die jeden Pflanzenwuchses bare Wüstenei hinein, und gab ich mich allen gegenüber, Onkel Mafio eingeschlossen, so liebenswürdig wie sonst auch. Ich nehme an, daß kein Mensch mir die Gefühle anmerkte, die mich bewegten. Trotzdem war ich froh, daß die Bürde der Unterhaltung an diesem Tag von dem Sklaven Nasenloch übernommen wurde. Vielleicht, um nicht immer mit seinen eigenen Problemen beschäftigt zu sein, erging er sich weitschweifig erst über ein Thema und wandte sich dann vielen anderen zu; ich zumindest war es zufrieden, schweigsam dahin-zureiten, zuzuhören und ihn erzählen zu lassen.
Was ihn aufgeschreckt hatte, war, daß er beim Beladen der Kamele eine kleine Schlange aufgerollt in einem unserer Körbe gefunden hatte. Irn ersten Augenblick hatte er einen Schreckensschrei ausgestoßen, doch dann gesagt: »Wir müssen das arme Ding ganz von Kashan her mitgebracht haben«, und statt es zu töten, hatte er es in den Sand hinausbefördert und dort davongleiten lassen. Beim Weiterreiten sagte er uns, warum.
»Wir Muslime haben keinen solchen Schrecken und Abscheu vor Schlangen wie ihr Christen. Ach, besonders gern mögen wir sie auch nicht, aber wir fürchten und hassen sie nicht so wie ihr. Eurer heiligen Bibel zufolge ist die Schlange die Verkörperung des Satansteufels. In Euren Märchen und Legenden habt Ihr die Schlange zu einem Ungeheuer aufgebläht, das Ihr Drache nennt. Unsere muslimischen Ungeheuer nehmen unweigerlich menschliche Gestalt an -es sind die jinn und afarit-oder aber es sind Vögel, wie im Fall des Riesenvogels Rock, ein Zwitter wie das mardkhora. Das ist ein Ungeheuer mit dem Kopf eines Menschen, dem Leib eines Löwen, den Stacheln eines Stachelschweins und dem Schwanz eines Skorpions. Bitte bemerkt, daß die Schlange nicht dazugehört.«
Nachsichtig sagte mein Vater: »Die Schlange ist verflucht seit jenem unseligen Geschehnis im Garten Eden. Es ist doch verständlich, daß Christen sie fürchten und sich berechtigt fühlen, sie zu hassen und sie zu erschlagen, wo immer sie auf eine solche stoßen.«
»Wir Muslime«, sagte Nasenloch, »geben Ehre dem, dem Ehre gebührt. Schließlich war es die Schlange des Gartens Eden, welche den Arabern die arabische Sprache schenkte, denn sie erfand die Sprache, in der sie Eva anredete und mit der sie sie verführte. Wie jeder weiß, ist das Arabische die edelste und beredteste Sprache, die es gibt. Selbstverständlich unterhielten Adam und Eva sich auf farsi, wenn sie allein waren, denn das persische farsi ist die bezauberndste aller Sprachen. Und der Racheengel Gabriel spricht immer nur turki, denn das ist die einschüchterndste aller Sprachen. Das jedoch nur nebenbei. Ich sprach von Schlangen, und es liegt auf der Hand, daß es
das Gleitende und die Geschmeidigkeit der
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